Fluch, Der: Roman
aus Aluminiumfolie handelte. Im Geiste hörte er wieder sein Traum-Ich zur Traum-Heidi sagen: Ich will nicht mehr dick sein. Ich habe festgestellt, daß es mir gefällt, dünn zu sein. Iß du es.
»Du hast Angst«, stellte Lemke fest. »Es ist zu spät für dich, Angst zu haben, weißer Mann aus der Stadt.«
Er holte ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche und klappte es mit der schwerfälligen, erfahrenen Bedächtigkeit des Alters auf. Die Klinge war kürzer als die an Ginellis Messer, aber sie sah schärfer aus.
Der alte Mann stach sie in die Tortenkruste und schlitzte einen ungefähr acht Zentimeter langen Spalt hinein. Dann zog er sie wieder heraus. Rote Tröpfchen fielen von ihr auf die Kruste. Er wischte sie an seinem Anzugärmel ab, was dort einen dunkelroten Streifen hinterließ. Danach klappte er das Messer wieder zusammen und steckte es weg. Er legte seine krummen Daumen jeweils über den entgegenge-setzten Rand der Aluminiumtortenplatte und zog sanft daran.
Der Schlitz spaltete sich auf und gab eine grauenhafte Flüssigkeit preis, in der dunkle Klumpen - Erdbeeren vielleicht – schwammen. Seine Daumen ließen die Platte los, und der Spalt schloß sich. Darauf spannte er die Daumen wieder und öffnete den Spalt. So fuhr er fort – spannen, loslassen, spannen, loslassen -, während er sprach. Billy war unfähig wegzusehen.
»So ... du hast dich also davon überzeugt, daß es ein ... wie hast du es genannt? ... ein Puush wäre. Daß das, was mit meiner Susanna geschehen ist, deine Schuld nicht mehr gewesen sein soll als meine, ihre oder Gottes Schuld. Du redest dir ein, man dürfe von dir nicht verlangen, dafür zu bezahlen -
es gibt keine Schuld, sagst du. Das redest und redest und redest du dir ein. Aber es gibt keinen Puush, weißer Mann aus der Stadt. Jeder bezahlt, sogar für Dinge, die er gar nicht getan hat. Kein Puush.«
Lemke fiel einen Augenblick in nachdenkliches Schweigen. Seine Daumen spannten und entspannten sich, spannten und entspannten sich. Der Spalt in der Torte öffnete und schloß sich.
»Weil du deine Schuld nicht auf dich nehmen wolltest –
weder du noch deine Freunde –, habe ich euch dazu gezwungen. Ich habe sie euch angeheftet wie ein Mal. Für meine liebe Tochter, die du getötet hast, habe ich das getan, und für ihre Mutter und für ihre Kinder. Dann kommt dein Freund. Er vergiftet meine Hunde, schießt mitten in der Nacht mit seinem Gewehr um sich, legt Hand an eine Frau, droht damit, den Kindern Säure ins Gesicht zu schütten.
›Nimm's weg‹, sagt er – ›nimm's weg‹ und ›nimm's weg‹ und ›nimm's weg‹. Und schließlich sage ich: ›In Ordnung, wenn du nur podol enkelt – Wenn du von hier verschwin-dest‹ Nicht wegen der Dinge, die er getan hat, sondern wegen der Dinge, die er tun wird – er ist wahnsinnig, dein Freund. Er wird niemals aufhören. Sogar meine Gelina sagt, sie sieht es an seinen Augen, daß er niemals aufhören wird.
›Aber wir werden auch niemals aufhören‹, sagt sie. Und ich sage: ›Doch, das werden wir. Ja, wir werden aufhören.
Denn wenn wir das nicht tun, dann sind wir genauso wahnsinnig wie der Freund des Stadtmenschen. Wenn wir nicht damit aufhören, müssen wir glauben, daß das, was der weiße Mann aus der Stadt sagt, richtig ist – Gott zahlt zurück, es gibt einen Puush‹.«
Spannen, entspannen. Spannen, entspannen. Auf und zu.
»›Nimm's weg‹, sagt er und wenigstens sagt er nicht: ›Laß es verschwinden‹ oder Mach, daß es aufhört‹. Denn ein Fluch ist in gewisser Weise wie ein Kind.«
Seine krummen, alten Daumen spannten die Folie. Der Spalt dehnte sich.
»Niemand kann diese Dinge verstehen. Auch ich nicht, aber ich weiß ein bißchen. ›Fluch‹. Das ist euer Wort. Aber unser Romaniwort ist besser. Hör zu: Purpurfargade ansiktet.
Kennst du das?«
Billy schüttelte langsam den Kopf und fand, daß das Wort dunkel und bedeutsam klang.
»Es bedeutet so etwas wie ›Kind der Nachtblumen‹. Es ist genauso, als ob man ein Kind bekommt, das ein varsel – ein Wechselbalg – ist. Wir Zigeuner sagen, varsels werden immer unter Lilien oder Nachtschattengewächsen gefunden.
Diese Art, es zu sagen, ist besser, denn ein Fluch ist ein Ding. Was du hast, ist aber kein Ding. Was du hast, lebt.«
»Ja«, sagte Billy. »Es ist in mir, nicht wahr? Es ist in mir und frißt mich von innen her auf.«
»Drinnen? Draußen?« Der Alte zuckte die Achseln. »Überall.
Dieses Ding - purpurfargade ansiktet –, man
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