Fluch, Der: Roman
träumen –, um zu beobachten, wie die Hunde sich gegenseitig zerfleischten. Sie kamen immer angerannt.
Weil das alles so fremdartig war. Klar, wir brauchen die Zigeuner.
Wir haben sie immer gebraucht. Denn wenn man niemanden hat, der immer mal wieder aus der Stadt verjagt werden kann, wie soll man dann wissen, daß man selbst dorthin gehört? Nun ja, sie werden ja bald kommen, die Zigeuner, nicht wahr?
»Wie wahr«, krächzte Billy und setzte sich auf eine Bank, die schon fast im Schatten stand. Seine Knie hatten plötzlich zu zittern angefangen. Er fühlte sich schwach. Er holte eine Apfelsine aus dem Netz, und mit einiger Anstrengung gelang es ihm, sie zu schälen. Aber der Appetit war ihm ver-gangen. Er konnte nur sehr wenig davon essen.
Die Bank stand ein gutes Stück von den anderen entfernt, so daß Billy - soweit er sehen konnte - keine übertriebene Aufmerksamkeit auf sich zog. Aus der Entfernung konnte er gut als ein sehr dünner alter Mann gelten, der die letzten Strahlen der Abendsonne genoß.
Er saß einfach da. Als der Schatten langsam über seine Schuhe kroch, dann die Knie hinauf bis zu seinem Schoß, erfaßte ihn eine fast fantastische Verzweiflung - ein Gefühl von Vergeblichkeit, viel, viel dunkler als der unschuldige Abendschatten. Die Dinge waren zu weit gegangen. Nichts konnte mehr zurückgenommen werden. Nicht einmal Ginelli mit seiner schon fast psychotischen Energie konnte das, was geschehen war, noch verändern. Er konnte es nur noch verschlimmern ...
Ich hätte niemals ... dachte Billy, aber dann versickerte das, was er niemals hätte tun sollen, leise, wie ein schlecht empfangenes Radiosignal, im Äther. Er nickte wieder ein. Und war wieder in Fairview, dem Fairview der Lebenden Toten.
Überall lagen Leichen – verhungerte Menschen ... und etwas pickte an seiner Schulter.
Nein.
Pick.
Nein.
Aber es kam wieder. Pick und pick und pick. Es war der Geier mit dem verrotteten Schnabel. Natürlich, wer sonst?
Er wollte den Kopf nicht umwenden aus Angst, daß der Geier ihm mit den schwarzen Überresten seines Schnabels die Augen aushackte. Aber
(pick)
der Geier pickte beharrlich weiter, und er (pick! pick!)
wandte doch langsam den Kopf, allmählich aus dem Traum erwachend, und sah ...
... ohne eigentlich überrascht zu sein, daß Taduz Lemke neben ihm auf der Bank saß.
»Wach auf, weißer Mann aus der Stadt«, sagte er und zupfte ihn mit seinen gekrümmten, nikotingelben Fingern kräftig am Ärmel. Pickl »Deine Träume sind schlecht. Ich rieche es am Gestank deines Atems.«
»Ich bin wach«, sagte Billy mit rauher Stimme.
»Bist du sicher?« fragte Lemke mit einigem Interesse.
»Ja.«
Der Alte trug einen grauen Serge-Zweireiher und an den Füßen schwarze, hochgeschnürte Schuhe. Das wenige Haar, das ihm noch geblieben war, war zu einem ordentlichen Mittelscheitel gezogen und weit aus der Stirn zurückgekämmt, die genauso faltig war wie das Leder seiner Schuhe.
Ein goldener Reifen funkelte in seinem Ohrläppchen.
Billy sah, daß die Fäulnis sich weiter ausgedehnt hatte – dunkle Linien breiteten sich strahlenförmig von der Ruine seiner Nase aus und bedeckten den größten Teil seiner ausgefurchten linken Wange.
»Krebs«, sagte Lemke. Seine leuchtend schwarzen Augen – wahrlich die Augen eines Vogels - ließen keinen Augenblick von Billys Gesicht ab. »Freut dich das? Macht dich das glücklich?« ›Glücklich‹ kam heraus wie ›gluicklich‹.
»Nein«, antwortete Billy. Er versuchte immer noch, die restlichen Traumfetzen wegzuschieben, um sich an diese Realität hier zu klammern. »Selbstverständlich nicht.«
»Lüg nicht«, tadelte der Alte. »Das hast du nicht nötig. Es freut dich. Natürlich freut es dich.«
»Nein, nichts davon freut mich«, widersprach Billy.
»Glaube mir, ich habe die Nase voll davon.«
»Ich glaube nie etwas, das ein weißer Mann aus der Stadt mir erzählt«, sagte der Alte. In seiner Stimme lag eine scheußliche Art von Genialität. »Aber du bist krank. O ja! Du bist krank. Du nastan farsk - du, der du daran stirbst, dünn zu sein. Ich habe dir also etwas mitgebracht. Es wird dich wieder etwas dicker machen. Du wirst dich bald wohler fühlen.« Seine Lippen legten in einem abscheulichen Grinsen seine schwarzen Zahnstümpfe frei. »Aber nur, wenn jemand anderer es ißt.«
Billy sah nach, was der Alte im Schoß hielt, und stellte mit einer aufflammenden Art von deja vue fest, daß es sich um eine Torte in einer Wegwerfverpackung
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