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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman
Autoren: Ned Beauman
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ausgeweideten Kadaver des Walisers stieg Dampf auf, kaum sichtbar im trüben Licht der Straßenlampen auf der Back Church Lane.
    Ich fiel in Ohnmacht.
    Gegen fünf Uhr morgens wurde ich davon geweckt, dass irgendetwas mein Gesicht ableckte. Ich öffnete die Augen. Ein Fuchs. Ich riss den Kopf zur Seite, und er machte ein paar erschrockene Schritte nach hinten. Das räudige, ausgezehrte Tier hatte Sehnen wie verdrehte Telefonkabel, es stank wie der Außenbereich einer Tankstelle, und sein Fell hatte die Farbe eines Absperrkegels, der in einem Container voller Regenwasser gelandet war. Es war – falls ich mich nicht ganz verständlich gemacht habe – unglaublich schön. Es starrte mich vielleicht eine volle Minute lang an, mit seltsamer Skepsis und den Augen eines Jungen. Dann schoss es davon und sprang über den Zaun. Ich atmete aus, und die Morgendämmerung tat dasselbe.
    Einige Stunden darauf fanden mich dann die ersten gähnenden Arbeiter von Grublock Homes, die auf der Baustelle eintrafen. Als sie die Skelette sahen, wollten sie sofort die Polizei holen, aber ich konnte sie überreden, mich zuerst Teymur anrufen zu lassen. Das Telefon am Ohr, erklärte ich alles. Teymur glaubte mir höchstwahrscheinlich nicht, als ich ihm erzählte, Grublock sei tot, aber trotzdem gab er den Arbeitern Anweisung, mich gehen zu lassen. (Ein selten erwähnter Vorteil von Baustellen ist die fantastische Vielfalt der Möglichkeiten, Handschellen aufzubrechen.) Bevor ich verschwand, lieh ich mir ein Paar Handschuhe und durchwühlte die Kleider, die noch schäbig an den Überresten des Walisers hingen. In der linken Innentasche seiner Jacke steckte der Brief von Hitler.
    Erst sehr viel später – nach all den Recherchen, Nachforschungen und Spekulationen, die in diese Geschichte eingeflossen sind – verstand ich, was geschehen sein musste: Tief in Sinners Hals war den letzten beiden halbtoten Exemplaren von Anophthalmus hitleri – gezüchtet, um unbezwingbar zu sein – ein letzter verzweifelter, beschädigter, ungelenker Fick gelungen; und zu ihrem Glück war Millicent Bruiseland nicht da gewesen, um sie zu unterbrechen. Zehn Fuß tief unterhalb der Oberfläche der Müllhalde vergraben, ergötzten sich die entstandenen Larven am Fleisch des Boxers und gediehen prächtig. Und nachdem diese hitzige Nachkommenschaft Sinner zum Skelett gemacht und das Mark aus seinen Oberschenkelknochen genagt hatte, behalf sie sich mit dem giftigen Borschtsch aus Speiseöl, fauligem Gemüsebrei und Schweinefett, der sich in jeder Ritze sammelte. Gelegentlich konnten sie sich vielleicht an einem toten Hund, einer toten Katze oder Taube gütlich tun, und wenn sie richtiges Glück hatten, beschloss vielleicht einer von Albert Kölmels jüngeren und leichtsinnigeren Kollegen, eine weitere menschliche Leiche loszuwerden. Als später, in Whitechapels deutlich wohlhabenderen Tagen, ein Lagerhaus auf dem Gelände der alten Müllhalde gebaut wurde, gruben sie sich einen Tunnel durch die Bodendielen und durchbohrten Büchsen mit Baked Beans. Wochen oder Monate mochten vergehen, in denen sie keine Nahrung fanden, aber sie waren – noch einmal dank Erskine – unverwüstlich genug zum Überleben. Oft fraßen sie sich einfach gegenseitig auf. Obwohl sich diese Enkel von Fluek über die ganze Müllhalde und die Fundamente der benachbarten Gebäude verbreitet hatten, eine Miniaturausgabe der Londoner Untergrundbahn, war Seth Roachs Schädel mehr als siebzig Jahre später immer noch das Hauptquartier ihrer Kolonie, und als der Waliser den Schädel zum ersten Mal seit seiner Beisetzung dem Licht aussetzte, verschlangen sie ihn. Und dasselbe wäre mir passiert – wenn ich keine Trimethylaminurie gehabt hätte. Selbst Käfer ziehen irgendwo eine Grenze.
    Als ich nach Hause kam, weckte ich als Erstes meinen Computer. Stuart war online, und er tauchte sofort in meinem Chatfenster auf.
    stuart: omfg alles ok?
    kevin: ja
    stuart: ist die polizei gekommen?
    kevin: nein
    stuart: was? wieso nicht?
was ist überhaupt passiert?
    Ich erzählte ihm alles, von Anfang an. Ein- oder zweimal brach ich ab, weil es bestimmte Details gab, die ich erst in den Sammlerforen für Nazi-Memorabilien überprüfen wollte. Als ich fertig war, schrieb er:
    stuart: das ist verrückt
    kevin: ich weiß
    stuart: hast du rausgefunden, wer ihn angeheuert hat?
    kevin: nein
erst hab ich grublock geglaubt, dass es die japaner waren
dann hab ich ihm irgendwie geglaubt, als er sagte, dass er es selbst
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