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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman
Autoren: Ned Beauman
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sah sie an, als gehöre sie ihm bereits und als sei er stolz darauf. Sie nahm an, dass die Masche bei recht vielen Frauen zog.
    »Erskine?«, wiederholte er.
    »Ja.«
    Kölmel lächelte und setzte zum Sprechen an, aber dann schwieg er, als habe er beschlossen, sich diese speziellen Worte für später aufzuheben. Stattdessen fragte er: »Was kann ich für Sie tun?«
    Drei Stunden später kletterte sie den tückischen Abhang der Müllhalde an der Back Church Lane hinauf. Die Dunkelheit war hereingebrochen, der Mond nur eine schmale Sichel, und sie war beinahe froh, dass sie nicht sehen konnte, was sich unter ihren Füßen befand. Sie trug einen Spaten und Tara, die neben ihr ging, einen Holzhammer. Frink und Kölmel folgten ihnen. Sie trugen Sinners Leiche, die in eine Decke eingerollt war.
    »Hier? Ist das dein Ernst?«, sagte Frink, der eine Narbe in der rechten Handfläche hatte, wie Evelyn bemerkt hatte. »Ich dachte, wir gehen ganz weit raus. Aber das hier ist ja … ganz weit drin.«
    »Klar ist das mein verdammter Ernst. Ich will ja eigentlich nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber früher habe ich diesen Platz ständig benutzt. Wenn du ganz weit nach draußen gehst, schnappen sie dich normalerweise schon auf dem Weg.«
    »Du weißt schon, dass hier Kinder spielen.«
    »Mach dir keine Sorgen, ich verbuddele sie immer tief. Und Kinder sollten hier eh nicht spielen. Ist unhygienisch.«
    Kurz zuvor hatten eine Handvoll Bargeld von Evelyn und ein ernstes Wort von Kölmel genügt, um sicherzustellen, dass der Taxifahrer niemandem von dem Betrunkenen in seinem Wagen erzählen würde, der nicht ein einziges Mal geschnarcht hatte und auch nicht nüchterner zu werden schien. Jetzt begannen Frink und Kölmel, mithilfe von Holzhammer und Spaten ein Loch in den verrottenden Unrat zu graben. Hin und wieder schepperte es, weil sie auf einen Bettrahmen, ein Fahrrad oder ein anderes großes Stück rostiges Metall gestoßen waren, und sie mussten ihre Werkzeuge ablegen, um es aus dem Weg zu zerren. Die beiden Männer gruben weiter in dieser seltsamen Erde, bis ihre Köpfe auf einer Höhe mit Evelyns und Taras Füßen waren, und dann gruben sie noch eine ganze Weile weiter. Als Kölmel schließlich mit der Tiefe des Lochs zufrieden war, kletterten sie, keuchend vor Anstrengung, hinaus und schickten sich an, Sinners Leiche ins stinkende, entropische Unterbewusstsein der Stadt hinunterzubefördern. Ihre Hosen waren mit einem giftigen schwarzen Sekret bespritzt.
    »Nein, bitte warten Sie«, sagte Evelyn.
    »Was ist los, meine Schöne?« Kölmel hielt inne. »Hat keinen Zweck zu flennen. Kennen Sie den alten jiddischen Fluch? ›Vi tsu derleb ikh im shoyn tsu bagrobn.‹ ›Ich hoffe, ich lebe lange genug, um dich zu begraben.‹ Das ist vernünftig.«
    »Ich möchte nur …« Evelyn kniete sich neben Sinner und zog die Decke zur Seite. Sie sah nach, ob er einen Ring am Finger oder ein Medaillon oder einen Talisman um den Hals trug, aber da war nichts, deshalb durchsuchte sie seine Taschen und bat im Stillen um ein Andenken, sei es auch noch so trivial. Aber sie fand nur ein zusammengeknülltes Stück Papier, und da es zu dunkel war, um den Inhalt entziffern zu können, stopfte sie es achtlos in ihre Handtasche. Hätte sie Sinner unbemerkt eine Haarsträhne abschneiden können, sie hätte es vermutlich getan. Aber dann kam sie sich erbärmlich vor, weil ihr Verlangen sie an Morton erinnerte, der ein Band aufbewahrt hatte, das ihr bei ihrer allerersten Begegnung aus dem Haar gefallen war, und der oft gesagt hatte, dass schon in diesem Augenblick offenbar geworden sei, dass sie sich verlieben würden; in Wahrheit hatte sie ganz genau gewusst, dass er das Gespräch mit ihr nur angefangen hatte, weil er gerade bei einem hübscheren Mädchen abgeblitzt war, an dessen Namen sie sich jetzt nicht mehr erinnern konnte, und dass er das verlorene Band nur deshalb vom Boden aufgehoben hatte, weil es eine einfache Möglichkeit bot, einen Flirt zu beginnen. Plötzlich überkam Evelyn der verzweifelte Wunsch, dass ihre Erinnerungen an Sinner niemals mit Desinfektionsmittel bespritzt oder mit Farbe überstrichen werden würden, dass ihr die gemeinsame Zeit in zehn Jahren um keinen Deut weniger trivial vorkommen würde, ihre Unterhaltungen um keinen Deut weniger gestelzt, ihre Vereinigung um keinen Deut weniger ungeschickt, seine Gefühle um keinen Deut weniger unverständlich, sein Tod um keinen Deut weniger abscheulich, als sie es in Wahrheit
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