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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman
Autoren: Ned Beauman
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Caroline Garlick sie an. Tara hatte Caroline nicht viel erzählt, nur dass sie Evelyns Hilfe benötigte, aber Evelyn erriet zumindest teilweise, was dahintersteckte, und bat Caroline, Tara etwas Geld zu geben und Stillschweigen zu bewahren. Mortons Beisetzung fand in der folgenden Woche in London statt, und nachdem sie stundenlang gebettelt hatte, erlaubten Evelyns Eltern ihr, danach bei Caroline zu bleiben, anstatt nach Claramore zurückzukehren. So konnte sie endlich am nächsten Tag Tara in der Pension besuchen, in der das Mädchen unter falschem Namen wohnte, und erfuhr die ganze Geschichte. Es war noch viel schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte.
    Natürlich wollte Evelyn, dass Bruiseland und ihr Vater für ihre Taten bestraft würden – aber eines war klar: Wenn sie zur Polizei ging und man ihr dort nicht glaubte, lieferte sie Tara ans Messer. Also war sie zur Untätigkeit gezwungen, und mit jeder Stunde, die verging, schien es unmöglicher, Gerechtigkeit zu erlangen: Es war, als sei Tara mit dem Arm ins Getriebe einer der Maschinen von Claramore geraten und werde nun tiefer und tiefer hineingezogen. Und so war alles, was Evelyn tun konnte, Tara zu helfen, einigermaßen anständig über die Runden zu kommen, und dabei plagten sie so starke Gewissensbisse, dass sie kaum schlafen konnte. Sie verbrachte einen Großteil ihrer Zeit mit Tara, und oft schloss Caroline sich ihnen an. Sie hatte ihren Schotten noch nicht geheiratet und war eine enthusiastische Komplizin. Für den Augenblick mochte es angehen, aber Evelyn wusste nicht, was sie auf längere Sicht tun sollten. Sie mussten sehr vorsichtig sein und alle Leute meiden, die sich eventuell an das flüchtige Mädchen erinnern würden; einmal erkannte ein Mann auf der Straße Tara nach ihrem Bild in der Zeitung, aber Evelyn schimpfte so lange mit ihm, bis er sich davonschlich und überzeugt war, dass er im Irrtum gewesen und sich unsagbar unhöflich verhalten hatte.
    Wenigstens würde sie nach diesem Training zukünftig wohl keine Schwierigkeiten haben, einen diskreten Seitensprung zu vollziehen.
    Und so war Tara auch an dem Sonntag des Marsches bei ihr, als Evelyn endlich zu dem Schluss kam, dass sie Sinner wirklich nie wiedersehen würde, wenn sie sich nicht bei Philip nach ihm erkundigte. Sie hatte sich geschworen, dass sie nicht so tief sinken würde, denn sie wollte nicht, dass ihr Bruder auch nur ahnte, was sie empfand, und sie brauchte das ganze Wochenende, bis sie sich endlich dazu durchringen konnte, zum Telefon zu greifen. Ärgerlich war, dass er nicht abhob, aber sie wusste, dass er nie ausging und vermutlich einfach mit seinen Insekten beschäftigt war. Oder war es möglich, dass Sinner heimlich wieder bei ihm lebte? Sie beschloss, der Wohnung am Nachmittag einen Besuch abzustatten.
    Um fünf Uhr nachmittags lag der Geruch von Zitronenschalen in der Luft von Clerkenwell, und alles schien ruhig, bis Evelyn das Gemälde ihres Bruders, das Rembrandts Anatomie des Dr.   Tulp nachempfunden war, auf dem Gehweg vor dem Haus liegen sah; der Rahmen war zerbrochen, rundherum lagen Glassplitter verstreut. Sie schaute nach oben und sah, dass eines der Fenster eingeschlagen worden war. Verwirrt betrat sie das Haus, während Tara, die Evelyns Bruder aus offensichtlichen Gründen nicht begegnen durfte, im Taxi wartete. Oben stellte sie fest, dass die Wohnungstür aufgebrochen und der Tisch umgekippt worden war. Sie vermutete einen Einbruch und wusste nicht, was sie erwarten würde, sodass sie nur wenige vorsichtige Schritte in die Wohnung machte. »Hallo?«, rief sie fragend. Und dann fiel ihr Blick durch die geöffnete Tür des Labors, und sie sah einen Körper, der ausgestreckt neben einem Haufen Erde lag wie ein erschöpfter Totengräber.
    Als sie darauf zurannte, war ihr erster wilder Gedanke, dass Bruiseland hier gewesen war und auch ihren Bruder ermordet hatte. Aber dann erkannte sie, dass es sich um Sinner handelte, der ein Hemd ihres Bruders trug. Seine Augen waren geschlossen, und trotz des rötlichen, aufgedunsenen Gesichts war er fast so schön wie immer. Sie fiel auf die Knie und legte eine Hand an seine Wange. Sie war warm, aber Evelyn konnte nicht feststellen, ob er atmete, also schlug sie ihm ins Gesicht und rüttelte heftig an seinen Schultern, aber dadurch fiel nur sein Kopf zur Seite. Bis auf einen Tropfen an einer Fingerspitze war kein Blut zu sehen. Das weiße Hemd war halb von einer Schulter gerutscht, sodass eine seiner kleinen
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