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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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den Hals, und dann würgte er heftig, als er sie an seinen Mandeln kratzen spürte wie Fleisch gewordener Keuchhusten. Er taumelte vor, lehnte sich an die Wand und versuchte, sie herauszuhusten wie einen Schleimklumpen, aber sie waren viel zu groß und bewegten sich in seiner Luftröhre schon weiter nach unten, tiefer hinein in seine dunkle feuchte Wärme. Selbst halb zerbissen, selbst verkrüppelt machten sie weiter – so hatte Erskine sie gezüchtet. Er versuchte zu erbrechen, aber er konnte nicht, er versuchte, nach Mrs.   Minton zu rufen, aber er konnte nicht. Tatsächlich war der einzige Laut, den er machen konnte, ein feuchtes chitinöses Klicken, als würden die Käfer selbst aus seinem Mund sprechen; kleine schwirrende Flecken erschienen vor seinen Augen, und auch sie erinnerten ihn an Käfer. Er schmeckte Blut, und aus irgendeinem Grund glaubte er, Fisch riechen zu können. Er hämmerte mit der Faust gegen seinen Hals, während er langsam auf die Knie sank und sich fragte, ob er die Ginflasche zerbrechen und die Käfer mit einer Glasscherbe herausschneiden könnte – im Krieg hatten die Leute es mit Granatsplittern so gemacht. Wenn er zuließ, dass er hier starb, würde er Erskine seinen Körper wie ein Geburtstagsgeschenk überreichen, und das durfte nicht passieren. Aber bevor er nach der Flasche greifen konnte, wurde ihm schwarz vor Augen, seine Arme erschlafften, und er kippte zur Seite und fiel auf den Boden.
    Sieben Minuten später kam eine junge Frau ins Labor gerannt.

ACHTZEHNTES KAPITEL
    Für Evelyn Erskine waren die »Gesetze« der Wahrscheinlichkeit nichts als Spielplatz-Jargon, genauso ermüdend wie all die Theorien ihres Bruders zur Eugenik. Würde sie Sinner jemals wiedersehen? Die Chance, würde Philip vermutlich sagen, war verschwindend klein. Ja, natürlich war sie das, aber auch die Chance, jemals jemanden wie Sinner kennenzulernen, war verschwindend klein gewesen, und doch war es passiert. Also war das Problem nicht nur, dass Sinner zwischen den hunderttausend Juden des East End verschwunden war. Das war gar kein echtes Hindernis: Ein Tag hat fast hunderttausend Sekunden, und in jeder einzelnen konnte sie Sinner zufällig auf der Straße begegnen. Das Problem war die Traurigkeit dieser Juden: Ihre Kinder starben an Typhus, ihre Eltern waren bei der Beantragung eines Passes der Gnade oder Ungnade von Nazi-Bürokraten ausgeliefert, ihre Geliebten waren NICHT MEHR UNTER DIESER ADRESSE ZU ERREICHEN und auch unter keiner anderen. Es musste so viele im East End geben, die so viele andere schon so heftig und so lange vermissten, dass es im strengen moralischen Sinne nicht den geringsten Unterschied zu machen schien, dass sie, Evelyn Erskine, zufällig auch jemanden vermisste: In diesem brodelnden Kessel tragischer Ereignisse hatte ihre eigene kleine Geschichte keinen Vorrang, und dem Wiedersehen, das sie verzweifelt herbeisehnte, fehlte die beglückende Unvermeidbarkeit der wirklich wichtigen Dinge – etwa, dass sie Komponistin werden würde. Und dazu kam auch noch Mosley. Wenn all diese Legionen von anonymen Armen dem Aufruf der Weltgeschichte zum Widerstand folgten, einer Weltgeschichte von der Art, über die in den Zeitungen berichtet wurde und an der Evelyn keinen Anteil haben konnte, dann schien es ihr noch plausibler, dass Sinner einfach mit seinem immensen Umfeld verschmolz und dass die bloße ernsthafte Intensität ihres Wunsches, ihn wiederzusehen, nicht ausreichen würde, um es tatsächlich geschehen zu lassen. Mit anderen Worten: Während der Faschistenmarsch durchs East End in Philip Erskines Augen die erste realistische Chance seit Claramore zu sein schien, den Jungen zu finden, bedeutete derselbe Marsch für Evelyn Erskine zum ersten Mal seit Claramore die realistische Gefahr, ihn zu verlieren. Aber trotz allem hätte ihr prinzipieller Optimismus vielleicht ausgereicht, um sie durchhalten zu lassen – wenn nur die Ereignisse in Claramore ihr nicht so übel mitgespielt hätten.
    Am Ende hatte sie viel stärker um ihren Verlobten getrauert, als sie je erwartet hätte. Man bildet sich vielleicht ein, dass es einem nichts ausmacht, doch das tut es immer – das begriff sie jetzt. Aber zumindest war der Tod endgültig, während das, was Bruiseland und ihr Vater getan hatten, nicht mit Morton geendet hatte und vielleicht nie wirklich enden würde, weil Tara sich immer noch verstecken musste.
    Nur wenige Stunden nachdem Mortons Leiche an jenem Tag im August entdeckt worden war, rief

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