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Flesh Gothic (German Edition)

Flesh Gothic (German Edition)

Titel: Flesh Gothic (German Edition)
Autoren: Edward Lee
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schossen ihm beunruhigendere Fragen durch den Kopf: Was muss sie durchgemacht haben? Was hat sie gefühlt und gesehen? Was sah sie, als sie die Augen aufschlug?
    Was genau starrte sie in diesem Moment an?
    Der Mann konnte nur beten, dass sie traumatisiert genug war, um sich nicht genau zu erinnern.
    Verdammt ... Die Pistole in seiner Hosentasche hatte sich nach oben gearbeitet. Die Spitze des Griffs ragte verräterisch heraus. Er zog seine Windjacke darüber, dann schob er die Waffe an ihren Platz zurück. Ich muss vorsichtiger sein . Die Waffe würde er nie im Zimmer zurücklassen, wenn er irgendwohin musste. Er wollte nicht, dass sie damit allein blieb.
    Der Mann kaufte eine dunklere Haartönung und eine Schachtel Zigaretten. Der Nieselregen wollte einfach nicht aufhören. Als er den Laden verließ, zog er die Kapuze über den Kopf. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Irish Pub. Der Mann fühlte sich wie gelähmt und starrte gebannt auf das Schild der Brauerei.
    Verdammt , dachte er abermals.
    »Nur eins«, murmelte er. »Nur eins, das täte jetzt so gut ...«
    »So etwas wie ›nur eins‹ gibt es nicht«, meldete sich eine hohe Stimme hinter ihm zu Wort. Er drehte sich um und musste nach unten schauen.
    Eine Gestalt, die er für eine junge Frau hielt, kauerte in einem Ziegelsteinverschlag neben einem Hydranten. Sie war völlig durchnässt. Der Nieselregen prasselte auf eine durchlöcherte Regenjacke, deren grelles Gelb sich längst in ein schmutziges Braun verwandelt hatte. Der Mann konnte kaum ihr Gesicht erkennen, weil die Kapuze die offenen Augen halb verbarg. Durch ihr Lächeln entblößte sie faulige Zähne, die wie zersetzte Pillen aussahen.
    »Aus einem werden ziemlich schnell 20«, sagte sie.
    »Ich weiß.«
    »Aber Sie sollten trotzdem reingehen und sich eins genehmigen, um zu feiern.«
    »Um was zu feiern?«
    Schmutzige Hände breiteten sich zu einer sonderbar fröhlichen Geste aus. »Diesen wunderschönen Tag!«
    »Ach ja? Ich komme aus Florida. Ich schätze, deshalb kann ich Seattles Definition von ›wunderschön‹ nicht wirklich nachvollziehen.«
    »Es gibt tolle Ecken hier, wenn man genau hinsieht.«
    »Da bin ich ganz sicher«, erwiderte der Mann.
    »Ich war früher auch wunderschön ...«
    Darauf wusste er angesichts ihrer offensichtlichen Notlage nichts zu entgegnen. Sie konnte nicht älter als 30 sein, aber wer mochte das schon mit Sicherheit sagen? Rosa Flecken besprenkelten den gelblichen Teint der aufgedunsenen Wangen. Chronische Alkoholikerin , stellte er mit Kennerblick fest. Die Haut wird gelb, weil ihre Leber nach und nach den Geist aufgibt ...
    »Wo wohnen Sie?«, fragte er.
    »Im Asyl in der King Street. Wenn ich laufen kann.«
    Der Mann zögerte kurz, dann kramte er in der Hosentasche. »Ich habe etwas Geld, das ich Ihnen geben kann ...«
    »Nein. Das brauche ich nicht. Was ich brauche, ist ein Drink. Holen Sie mir etwas zu trinken.«
    Der Mann fühlte sich kraftlos. »Das ... das kann ich nicht. Tut mir leid.«
    »Schon okay.« Mit schief in den Nacken gelegtem Kopf warf sie ihm noch immer ihr verunstaltetes Lächeln zu. »Aber falls Sie doch in den Pub auf der anderen Straßenseite gehen, und ich denke, das werden Sie ...«
    »Werde ich nicht«, widersprach er.
    »Aber falls doch, dann trinken Sie einen für mich mit.«
    Erneut wusste der Mann nichts zu entgegnen.
    Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Die ihren Umständen trotzende Heiterkeit schlug in etwas Düsteres um. »Da ist noch etwas in mir.«
    »Was?«
    »Ich soll Ihnen etwas mitteilen.«
    Die letzten Stadien einer chronischen Säuferin. Verminderte Sauerstoffversorgung des Gehirns, Toxin im Blut, dann kamen die Psychosen . Er spielte mit. »Was sollen Sie mir mitteilen?«
    Jäh veränderte sich ihre Stimme. »Gehen Sie weg. Lassen Sie sie zurück.«
    Die Zähne des Mannes klappten aufeinander. »Wen soll ich zurücklassen?«
    »Töten Sie sie nicht.«
    Der Mann glotzte sie entgeistert an.
    »Gehen Sie einfach irgendwohin. Wenn Sie das tun, werden Sie belohnt.«
    Der Mann brachte kein Wort hervor. Er starrte die Frau in der Gosse nur weiter an, während Regen auf seine Kapuze prasselte.
    »Überlassen Sie den Rest ... uns.«
    Dann verwandelte sich ihr Gesicht einen flüchtigen Moment lang in etwas, das nicht mehr an einen Menschen erinnerte, eher an ein pulsierendes schwarzes Loch in ihrer Kapuze.
    Der Mann konnte sich nicht rühren.
    Das echte Gesicht kehrte mit einem verblassenden Lächeln und
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