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Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag

Titel: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag
Autoren: Alan Bradley
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pflege, Dinge höre, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Mein Spezialgebiet ist Weinen in allen seinen Spielarten.
    Die Laute kamen aus der nordwestlichen Ecke des Friedhofs, unweit des Holzschuppens, in dem der Totengräber sein Werkzeug aufbewahrte. Als ich auf Zehenspitzen näher schlich, schwollen die Klagelaute an: Dort heulte jemand vor sich hin, und zwar auf die gute alte Rotz-und-Wasser-Art.
    Es ist schlicht naturgegeben, dass die meisten Männer an einer weinenden Frau vorbeigehen können, als hätten sie Scheuklappen vor den Augen und Bohnen in den Ohren, aber keine Frau kann eine Geschlechtsgenossin schluchzen hören, ohne ihr umgehend zu Hilfe zu eilen.
    Ich spähte hinter einer schwarzen Marmorsäule hervor - und da lag sie, lang ausgestreckt bäuchlings auf einer Grabplatte. Ihr Haar ergoss sich wie blutiger Wasserfall über die verwitterte Inschrift im Kalkstein. Bis auf die Zigarette, die anmutig zwischen ihren Fingern klemmte, glich sie einem Gemälde von Burne-Jones oder einem anderen Präraffaeliten. Fast widerstrebte es mir, sie zu stören.
    »Guten Tag«, sagte ich. »Geht’s Ihnen nicht gut?«

    Es scheint ebenso naturgegeben zu sein, dass man solche Unterhaltungen immer mit einer unglaublich blöden Bemerkung beginnt. Ich hatte sie noch nicht ausgesprochen, da war sie mir schon peinlich.
    »Ach was! Mir geht’s bestens«, schimpfte sie, sprang auf und wischte sich die Augen. »Was schleichst du dich so an mich ran? Wer bist du überhaupt?«
    Sie warf die Haare zurück und reckte trotzig das Kinn. Ich erblickte die hohen Wangenknochen und das dramatische dreieckige Gesicht eines Stummfilmstars, und so wie sie die Zähne bleckte, sah man sofort, dass sie Angst hatte.
    »Flavia. Ich bin Flavia de Luce. Ich wohne hier in der Nähe … auf Buckshaw.«
    Ich zeigte mit dem Daumen in die ungefähre Richtung.
    Sie starrte mich an, als zappelte sie immer noch in den Fängen eines Albtraums.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
    Sie richtete sich zu voller Größe auf - was höchstens eins sechzig sein konnte - und machte einen Schritt auf mich zu, wie eine empörte Version von Botticellis Venus, die ich einmal auf einer Huntley-and-Palmer-Keksdose gesehen hatte.
    Ich wich nicht von der Stelle und richtete den Blick unverwandt auf ihr Kleid. Es war aus cremefarbenem, bedrucktem Kattun mit gerafftem Oberteil und ausgestelltem Rock. Das Muster zeigte lauter winzige Blumen, rot, gelb, blau, einige auch leuchtend orange wie manche Mohnblumen. Mir fiel unweigerlich auf, dass der Saum mit angetrocknetem Lehm verschmiert war.
    »Ist was?« Sie zog affektiert an ihrer zerknickten Zigarette. »Hast du noch nie jemanden Berühmtes gesehen?«
    Berühmt? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer sie war. Angesichts dessen reagierte ich ausgesprochen geistesgegenwärtig, indem ich erwiderte, ich sei sehr wohl schon jemand
Berühmtem begegnet, und zwar Winston Churchill, den mir Vater einmal in London aus dem Taxi heraus gezeigt hatte. Churchill hatte vor dem Savoy gestanden, die Daumen in die Westentaschen gehakt, und auf einen Mann in gelbem Regenmantel eingeredet.
    »Der gute alte Winnie«, hatte Vater wie im Selbstgespräch geraunt.
    »Na und?«, sagte die Frau. »Was für ein grässlicher Ort … voller grässlicher Menschen … und dazu diese verdammten Autos!« Sie brach abermals in Schluchzen aus.
    »Kann ich etwas für Sie tun?«, erkundigte ich mich.
    »Geh einfach weg und lass mich in Ruhe«, schluchzte sie.
    Meinetwegen, dachte ich. Eigentlich dachte ich mir noch mehr, aber da ich mir ja vorgenommen hatte, ein besserer Mensch zu werden …
    Ich blieb noch einen Augenblick stehen und beugte mich unauffällig vor, um zu sehen, ob ihre vom Kinn tropfenden Tränen mit der porösen Oberfläche des Grabsteins reagierten, denn Tränen bestehen bekanntlich hauptsächlich aus Wasser, Natriumchlorid, Mangan und Kalium, wogegen Kalkstein in erster Linie aus Kalkspat besteht, der in Natriumchlorid löslich ist - allerdings nur bei hohen Temperaturen. Darum war es ziemlich unwahrscheinlich - es sei denn, die Temperatur auf dem Friedhof von St. Tankred stieg ganz plötzlich sehr rasant an -, dass sich hier etwas chemisch Interessantes ereignen würde.
    Ich drehte mich um und ging davon.
    »Flavia …«
    Ich wandte den Kopf. Sie streckte die Hand nach mir aus.
    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich hatte heute einen echt beschissenen Tag.«
    Ich hielt inne … und ging
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