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Flashback

Titel: Flashback
Autoren: Dan Simmons
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zweihunderttausend Soldaten und Soldatinnen der Armee der Republik Texas über die Grenze nach New Mexico vorrücken. Die bewaffneten Streitkräfte sollten die früheren und zukünftigen US-Staaten New Mexico, Arizona und Kalifornien von den letzten Resten »ausländischer Präsenz« befreien.
    Die letzte E-Mail stammte von Dr. Linda Alvarez, die Nick bei einer Weihnachtsfeier auf dem River Walk kennengelernt und mit der er seit Neujahr viel Zeit verbracht hatte. Diese Nachricht hob er sich für später auf.
    Ich muss dir noch von ihr erzählen, Dara.
    In seiner Zeit als Flashbackkonsument hatte Nick nie im Kopf E-Mails an Dara geschickt. Eigentlich hatte er damals auch nicht viel an sie gedacht. Das war nicht nötig, weil er ständig die Stunden und Tage mit ihr nacherlebte. Doch das waren nur erstarrte Erinnerungen. Jetzt, ohne Flashback, war er in Gedanken oft bei Dara – während die Unmittelbarkeit ihrer Erscheinung und Berührung verblasste –, und er schickte ihr täglich eine mentale E-Mail. Diese Nachrichten waren kurz, wenn auch nicht so kurz wie die von Val, die mit zwei Sätzen auskamen.
    Wir müssen lernen, uns mit unseren Verlusten abzufinden. Das war kein pseudotiefgründiger Gedanke, der Nick durch den Kopf schoss, sondern eine Bemerkung von Major Trevors bei der gestrigen Einsatzbesprechung. Allerdings würden sich die Verluste der Texas Rangers wohl in Grenzen halten. Sie folgten der eigentlichen Armee, um die polizeiliche Sicherung von Recht und Ordnung zu gewährleisten.
    Aber man konnte nie wissen.

    In drei Wochen sollten Omuras Truppen – Satos Einheiten und die Nationalgarden der Staaten Kalifornien und Washington – nach Kanada vorrücken, um sich den Milizen des Kalifats entgegenzustellen. Dort war mit heftigen Gefechten und großen Verlusten zu rechnen. Nick wäre gern dabei gewesen … oder auch nicht. Nicht, wenn er seine Zeit mit Dr. Linda Alvarez verbringen konnte. Oder mit einem guten Buch. Oder mit einem seiner geliebten alten Filme. Oder mit Val, bei einem seiner seltenen Besuche.
    Wir müssen lernen, uns mit unseren Verlusten abzufinden.
    Nick war dazu bereit. Das Schwerste hatte er schon gelernt.
    Er legte ein Handtuch auf die Arbeitsplatte. Dann klappte er das Messer auf und tauchte die schmale Klinge in Alkohol. Im Morgenlicht vor dem Fenster erwachte die Stadt zum Leben, und Alamo erstrahlte – wie er gehört hatte, wurde heute irgendein Jahrestag des Forts begangen. Nick stützte sich auf die Arbeitsplatte und zog die Klinge über den Unterarm, bis das Blut über die Haut sickerte und sich in roten Sternen auf dem Handtuch sammelte.
    Nick drückte noch ein wenig fester und biss die Zähne zusammen, als sich die Klinge bis ins Fleisch grub. Wenn es sein musste, würde er bis zum Knochen schneiden.
    Aber nein, der Schmerz genügte. Es war ein scharfer, unverfälschter, unleugbarer Schmerz. Eine Art von Schmerz, die Flashback 2 in seinen Träumen nie zugelassen hätte. Niemals.
    Nick zog das Messer zurück und behandelte die Wunde, um sie dann rasch zu verbinden. An dieser Stelle würde eine Narbe bleiben, die sich bald in das feine Gewebe der zahllosen anderen Narben einfügen würde.
    Denn das hatte Nick Bottom aus seinem Traum gelernt – aus seinem jahrelangen Drogentraum: Zu leben heißt Schmerzen zu ertragen. Wer leben will, muss Schmerzen ertragen.
    Nick machte sauber, räumte das Messer auf und weichte das Handtuch in der Wanne ein. Dann setzte er Kaffee auf. Genau,
heute wollte er sich ein großes Frühstück gönnen: Eier, Schinken, Toast, alles was dazugehörte. Der Appell war zwar erst um neun, aber ihm stand ein langer Tag bevor, und er wusste nicht, wann er wieder etwas zwischen die Zähne bekam.
    Ohne Schmerz kein Leben. Das hatte Nick begriffen. Ohne Schmerz keine Zukunft. Wer leben wollte, musste die Kraft haben, sich dem Schmerz und dem Verlust zu stellen und darin etwas Reales zu finden.
    Alles andere war nur Flashback.
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