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Flaschenpost

Flaschenpost

Titel: Flaschenpost
Autoren: Alexander Frost
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der Grenzbeamte: „Warum eigentlich nicht, eigentlich sollten alle Ghettos unsere Klos putzen“. Wir waren Ghettos und unsere Persönlichkeit steckte im Daumen. Die Reichen in den Außenbezirken hatten unsichtbare EAN-Codes auf dem Handrücken, mit denen sie bezahlten und sich auswiesen.
    Ich war gefangen in einer Welt, in der Persönlichkeit und Charakter keine Rolle mehr spielten. Manchmal entfloh ich dieser Welt und schlich mich nach Feierabend auf das Dach des Kontrollrechenzentrums und sah in den Sternenhimmel. Einmal nahm ich sogar Lara mit und diese wollte mir nicht glauben, dass ich nur hier diesen Himmel sehen konnte, da im Ghetto die Wolkenkratzer so hoch und so dicht an dicht gebaut waren, dass einem der Blick zum Himmel versperrt war. Dann kam der Moment, als  mir Lara per Video-Mail mitteilte, dass sie sich von mir trennt, da sonst ihre berufliche Zukunft in Gefahr sei und diese sei wichtiger als eine emotionale Nichtigkeit. Das passte aber zu ihr, denn Emotionen waren ihr fremd. Wenn ich mich jetzt an sie erinnere, ist sie eigentlich das Musterbeispiel der neuen „gewollten Generation“. Materialistisch, emotionslos, egoistisch und ohne Moral. Ich lebte in einer Gesellschaft, in der ich mich heimatlos fühlte. Meine Heimat war bei meiner Mutter und unserer Vergangenheit. Eine Zeit, als mein Vater noch lebte. Eine Zeit, als Berlin und das ganze Land im Aufbruch waren. Eine Zeit, als wir noch eine Bundeskanzlerin hatten, die bei ihrer Antrittsrede sagte: „Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen“. Sie leitete jedoch in ihrer  Amtszeit nur ein, was Anton Schneider vollendete, eine Welt ohne inneren Frieden, ohne Gleichheit und Gerechtigkeit. Manchmal klammerte ich mich fest an meiner Vergangenheit und die meiner Mutter. Es lenkte mich ab und es gab mir Hoffnung auf eine bessere Zukunft.  Mein Vater hatte uns unzählige Geschichtsbücher seiner Vergangenheit hinterlassen, die ich wissbegierig las. Aber auch die Vergangenheit unserer Stadt hatte schon eimal so eine Zeit erlebt, in der Menschen wegen ihres Glaubens auf grausamste Weise getötet wurden. Juden und Andersdenkende wurden verfolgt und getötet.  Dies liegt nun fast 100 Jahre zurück.
    Mein Vater hatte mir einmal gesagt, dass dies ein Test dafür gewesen sei, wie weit man gehen könne und wie sehr sich Menschen manipulieren lassen. „Der Ernstfall steht uns unmittelbar bevor“ sagte er immer. Mein Vater hatte Recht und wenn er noch am Leben wäre, würde ich ihn sagen: „Selbst deine schlimmsten Befürchtungen sind noch übertroffen worden“. Kopfschüttelnd saß ich gebeugt über dem Fotoalbum neben meiner Mutter am Tisch und fragte sie: „Mama, wie konnte dies alles eigentlich passieren, wenn deine Eltern, als sie noch Kinder waren, schon einmal so etwas erlebt hatten?“ Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht, sah mir tief in die Augen und antwortete: „Weil meine Generation dachte, sie habe damit nichts mehr zu tun und sei frei von Schuld. Weil uns beigebracht wurde, dass Geld und Besitz wichtiger ist als Freiheit und Liebe. Weil wir gelernt haben, Ungerechtigkeit zu akzeptieren, weil uns von Kindesbeinen an gesagt wurde, dass wir die Welt nicht verändern können. Uns wurde immer eingetrichtert, dass wir nichts ändern könnten. Deshalb haben die anderen die Welt verändert und nicht die Bewegung, der dein Vater angehörte. Deswegen ist es auch nur gerecht, was uns nun widerfährt“. „Welcher Bewegung gehörte er denn an?“ fragte ich überrascht. Sie holte tief Luft und versuchte, ihre Traurigkeit zu verbergen, als sie antwortete: „Er gehörte der Revolution der Herzen an“. Ich war plötzlich tief beeindruckt, denn ich kannte „die Revolution der Herzen“ durch Bücher meines Vaters. Der Gründer dieser Revolution hieß Frederik Klein und war bei der Bundestagswahl 2015 Schneiders Gegenkandidat. Sieben Tage vor der Wahl verschwand Klein spurlos, seine Leiche wurde nie entdeckt. So wurde Anton Schneider im Amt bestätigt, die Revolution der Herzen wurde später wegen Verfassungsfeindlichkeit verboten und so nahm die Geschichte seinen Lauf. Ich lebe in Berlin, der Hauptstadt GERMANIENS.
    Heute ist Silvester und dies ist der Tag, an dem die Ghettos auf die Dächer der Wolkenkratzer klettern, um das Feuerwerk der Reichen zu sehen, weil wir lieber Brot statt Böller im Kühlschrank haben. Dieses Silvester wird für mich das erste sein, welches ich nicht in Berlin verbringen werde.  Ich sitze am Strand der Weststaaten,
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