Fischland-Rache
weiter, ohne zu denken, nur weiter, bis er so ausgepumpt war, dass er kaum noch Luft bekam. Keuchend blieb er stehen und bemerkte, dass er sich längst auf dem sehr schmalen Pfad dicht an der Abbruchkante des Hohen Ufers befand. Er holte weit aus und warf die Pistole über das Steilufer hinaus in die See.
»Aber da ⦠ist sie gar nicht angekommen«, sagte Peters. Seine Stimme war immer leiser und schwächer geworden. »Ich hab stattdessen ⦠den Bunker getroffen ⦠ohne es ⦠zu merken.« Er schloss die Augen. »Tut mir ⦠leid ⦠Herr Jung. Obwohl ich ⦠zugebe, dass ⦠ich mich ⦠zwischenzeitlich beglückwünschte, weil ⦠Sie in Schwierigkeiten ⦠kamen. Sie ⦠hatten mir ⦠meinen Sohn weggenommen ⦠dachte ⦠ich. Werden Sie ⦠ein bisschen ⦠auf ihn ⦠aufpassen?«
Heinz hatte bei Bruno gestanden, jetzt trat er näher und hockte sich neben Mirko. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Aber falls er es doch mal brauchen sollte, werde ich da sein«, sagte er.
»Danâ¦ke.«
Es blieb so lange still, dass Kassandra das ÃuÃerste befürchtete. Da holte Peters noch einmal rasselnd Luft. »Ich hätte ⦠das nicht tun dürfen. Ich hätte ⦠Sascha davonkommen lassen ⦠müssen. Nur so ⦠hätte ich wirklich ⦠was Sinnvolles getan und ⦠Inga und meinem Sohn geholfen. Aber ⦠ich ⦠konnte nicht ⦠anders.«
Mirko, der seit dem Geständnis geschwiegen hatte, rang sichtlich um Worte. Es war klar, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, sie zu sagen.
»Mirko«, flüsterte Peters. Er öffnete die Augen, doch sein Blick ging ins Leere. »Bist du noch da?«
»Ja«, sagte Mirko und drückte seine Hand. »Ich bin hier, Papa.«
Ralf Peters lächelte, ein Zittern lief durch seinen Körper, dann war es zu Ende.
27
Gefühle sind eine seltsame Sache, dachte Kassandra. Sie stand vor der groÃen Fensterfront oben in Pauls Haus und blickte über den Deich hinweg auf die See, ohne sie wahrzunehmen. Zu viel ging ihr im Kopf herum. Ãber vier Wochen waren seit jenem denkwürdigen Abend im »FischLänder« vergangen, das seitdem geschlossen war. Ralf Petersâ Geständnis war völlig überraschend gekommen, und Paul hatte sich darüber, dass ausgerechnet Ralf Sascha erschossen hatte, nicht weniger bestürzt gezeigt als Mirko. Dennoch verspürte er ein diffuses Gefühl von Dankbarkeit, dass Ralf Inga davor bewahrt hatte, in letzter Konsequenz einen Mord zu begehen, auch wenn das, was sie dazu beigetragen hatte, sehr schwer wog.
Etwas anderes wog ebenso schwer: Was geschehen war, ging an niemandem spurlos vorüber, der daran Anteil gehabt hatte, aber Paul traf es besonders hart. Innerhalb von zwei Wochen war alles, was er je hatte vergessen wollen, mit Macht wieder an die Oberfläche gespült worden. Wäre er ein weniger ausgeglichener Mensch, hätte sich Kassandra ernsthaft Sorgen gemacht. Aber auch so waren sie noch nicht recht zur Ruhe gekommen. Etwas schien über ihnen zu schweben, als fehlte der Geschichte ein Abschluss.
Kassandra hauchte die kalte Fensterscheibe an und malte gedankenverloren einen Kreis auf die beschlagene Stelle. Gefühle waren wirklich eine seltsame Sache. Unter ihrem Einfluss dachte und handelte man nicht immer rational. Inga zum Beispiel. Sie hatte gewusst, wozu Ralf Peters fähig war, aber nicht, welche Rechnung er möglicherweise mit Paul begleichen wollte â und dadurch, dass sie Dietrich von dem dritten Zugang zu ihrem Haus erzählt hatte, was ein Eingreifen der Polizei ermöglichte, hatte sie verhindern wollen, dass er ihm etwas antat. Trotz aller gegenteiliger Beteuerungen in Bliesenrade war ihr der alte Freund ihres Vaters eben doch nicht völlig gleichgültig. Dagegen hatte sie keinerlei Skrupel gehabt, Mona glauben zu lassen, sie hätte eine Affäre mit Mirko. Sie war davon ausgegangen, dass Mona sofort Mirkos Verwicklung in den Mord vermuten würde, wenn sie von der Schwester-Bruder-Verbindung gewusst hätte. So viel sie auch für Mona empfand â Mirko liebte sie mehr, und es schien ihr sicherer für ihn, dass niemand von seiner Beteiligung auch nur ahnte. SchlieÃlich hatte sie nicht wissen können, dass Mirko sich am Ende komplett
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