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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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bewegungslos und gerade das tat mir unendlich Leid.
    «Was hat denn Herr Redenius später zu dir gesagt, als du wieder in Sicherheit warst?», fragte ich, ohne das Streicheln zu unterbrechen.
    «Nichts», sagte Henk nur.
    «Hat er nicht mit dir geschimpft oder Gesa für ihre zweifelhafte ‹Hilfe› besonders gelobt?» Ich sah, wie Henk ein paar bittere Worte herunterschluckte. Warum wollte er nichts mehr sagen? «Und die anderen Kinder? Du hast doch sicher Freunde hier im Haus, hast du denen nichts erzählt?»
    Er sah mich traurig an. «Freunde? Niemand hat hier Freunde. Hier will jeder nur der Beste sein, sonst nichts!»
    «Ach, Quatsch», beruhigte ich ihn, obwohl mich seine letzten Worte aufgewühlt hatten. «Hier gibt es fünfzehn Kinder, alle sind ungefähr in deinem Alter, alle haben irgendetwas, was sie besonders gut können und was sie absolut nicht draufhaben.Nicht alle sind wie Gesa, es ist bestimmt jemand dabei, der dich mag und der dich gern zum Freund hätte.»
    «Aber doch nicht, seitdem meine Tests so gut sind.» Er schluchzte und ich konnte ihn kaum verstehen. «Herr Dieken und Frau Dr.   Schewe und all die anderen machen so eine Riesensache aus meinen Ergebnissen, da will keiner mehr mit mir spielen.»
    Der Junge schüttelte den Kopf und ein paar Tränen lösten sich von seinem Kinn und tropften auf das Drachenmonster auf dem Shirt. Es sah aus, als liefe dem Monster die Nase, und in meiner Hilflosigkeit zeigte ich mit dem Finger darauf: «Schau, dein Pokémon hat Schnupfen.»
    Und Gott sei Dank lächelte er, zwar sehr schief, aber schließlich wischte er sich die Nässe mit dem kurzen Ärmel aus dem Gesicht und nahm den Stift wieder in die Hand.
    Er war tapfer, der kleine Henk. Ich wusste, dass er in den letzten Monaten sein ganzes Leben hatte umkrempeln müssen. Seine Großmutter war gestorben, sie war die Einzige, die sich bislang für ihn interessiert hatte. Nun lebte er bei seiner Mutter, ich kannte Frau Andreesen nicht, sie brachte ihn nach der Schule nicht zu uns und holte ihn auch am Abend nie ab. Voll berufstätig, irgendetwas Esoterisches, sagte Dr.   Schewe einmal zu mir, und dass sie noch sehr jung sei und den Eindruck mache, mit der Erziehung des Kindes überfordert zu sein. Natürlich war es nicht meine Aufgabe, denn ich war für die Öffentlichkeitsarbeit von Liekedeler zuständig und nicht für das Seelenleben der Kinder. Doch ich wollte Henk Andreesen zeigen, dass er mir sein Geheimnis nicht umsonst anvertraut hatte. Er sollte wissen, dass ich ihm beistand. Bei der nächsten Gelegenheit wollte ich Jochen Redenius zu diesem Thema befragen. Ich konnte nicht so tun, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Dazukonnte ich viel zu gut nachempfinden, wie es ihm ging. Dazu erinnerte er mich viel zu sehr an das kleine, verlorene Mädchen von acht Jahren mit butterblumengelbem Haar und Unmengen von Sommersprossen im Gesicht.
    «Es war gut, dass du mir davon erzählt hast», sagte ich ruhig, als er sich bereits wieder seinem Aufgabenheft zugewandt hatte.
    «Das wird mir leider nicht viel nützen», murmelte er, ohne aufzublicken. «Wen Gesa im Visier hat, den beschießt sie auch.»
     
    Das kleine, verlorene Mädchen mit butterblumengelbem Haar war ich gewesen. In dem Sommer, als ich acht Jahre alt war, hatte meine Mutter in irgendeiner Spezialklinik, ganz weit entfernt von mir, ihren Kampf gegen den Krebs verloren. Ein achtjähriges Mädchen versteht noch nicht viel von Tumoren und Metastasen, deshalb war ich eigentlich nur auf meine Mutter wütend und enttäuscht, dass ich den Rest meines Lebens allein mit meinem Vater verbringen sollte.
    Und so hatte das kleine Mädchen zwar immer noch dieselben Unmengen von Sommersprossen im Gesicht, doch es war ein wenig vorsichtiger geworden, immer auf der Hut, schließlich konnte sich von einem auf den anderen Tag die ganze Welt ändern. Eine Halbwaise mit einem Vater, der zwar liebevoll und zuverlässig, aber eben ständig auf Reisen war. Ich bemitleidete mich nicht selbst, auch wenn es vielleicht so klingen mag. Ich analysierte nur gern die Zusammenhänge, die mich zu einer Frau werden ließen, die einem Mann wie Ben einfach den Laufpass gab.
     
    Ben war eigentlich ein Netter. Als er damals nach Norden zog, nahm er sich eine wirklich hübsche Dreizimmerwohnung in einer Gegend, die grüner, friedlicher und besser war, als ich esgewohnt war. Neubausiedlung in Tidofeld, eine Doppelhaushälfte mit winzigem Garten und eine Badewanne, die groß

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