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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser
Autoren: Sandra Lüpkes
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auf die Wange zu hauchen.
    «Vielen Dank», brachte ich hervor, «aber ich kann doch nicht Knall auf Fall die Arbeit liegen lassen und umziehen!» Die anderen duldeten meinen Protest jedoch nicht und schließlich nahm ich die Pflanze unter den Arm und stieg die Holztreppen hinauf. Im ersten Stock waren die Schulzimmer untergebracht, das sonnige Atelier, ein kleines Labor. Eine Etage höher wohnte Sjard Dieken und ihm gegenüber Silvia Mühring, im hinteren Teil des Hauses hatte auch Jochen Redenius eine Wohnung.
    Das Dachgeschoss hatte ich für mich allein. Der Schlüssel steckte, ich trat ein und stellte mich vor das große, runde Fenster in dem Raum, der einmal mein Wohnzimmer werden sollte. Und dann atmete ich durch. Ganz tief. Es war ein tolles Gefühl.
    Ich war fast einunddreißig Jahre alt und stand zum ersten Mal in meinen eigenen vier Wänden. Während meiner Studienzeit hatte ich mich von WG zu WG gehangelt, bis ich wieder bei meinem Vater wohnte. Mein Freund Ben hatte mich mehr als nur einmal gefragt, ob ich nicht zu ihm ziehen wollte, und ich hatte mir diese Idee mehr als nur einmal ernsthaft durch denKopf gehen lassen. Und sie jedes Mal verworfen. Ich konnte nicht genau ausmachen, weshalb ich nicht mit ihm zusammenleben wollte. Vielleicht, weil ich befürchtete, dass Ben nicht «jener welcher» war.
    Und erst in diesem erhebenden Moment, als ich unter den schrägen Wänden meiner neuen, meiner eigenen Wohnung stand, war mir klar, dass es höchste Zeit war, neu zu beginnen.
    Ein guter Job, ein Haufen netter Kollegen, eine Wohnung, die dazu bestimmt war, dass ich mich in ihr wohl fühlen sollte. Ich fühlte, dass ich angekommen war. Dass ich hierhin gehörte.
    Und dieses Gefühl hatte ich noch nie zuvor gehabt.
     
    «Sie wohnen jetzt auch hier», sagte Henk Andreesen zu mir, und es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die er freudig lächelnd, aber auch etwas schüchtern in den Raum stellte.
    Er saß über seinen Hausaufgaben, die dunkelblonden Haare waren ein wenig zu lang über den Augen und er musste sie ständig aus dem Gesicht streichen.
    Seit drei Wochen beobachtete ich den kleinen, blassen Jungen, führte unauffällig Protokoll über sein Verhalten und war ihm so etwas wie eine erwachsene Freundin geworden. Jedenfalls hoffte ich, dass auch er es so sah, ich zumindest hatte Henk in mein Herz geschlossen. Seine kindliche Offenheit, sein Vertrauen und diese nimmersatte Wissbegierde machten ihn in meinen Augen zu einem der liebenswertesten Kinder bei Liekedeler. Und auch zu einem der geeignetsten. Er war unser Projekt, mit dem wir in gut einem Monat an die ganz große Öffentlichkeit gehen wollten. Henk Andreesen war es, dem in einigen Wochen ein ganzer Fernsehbeitrag gewidmet werden sollte. Ich war stolz auf meine Arbeit, die hartnäckigen Anrufe bei zahlreichen Sendern hatten etwas gebracht, es gab immer mehr Interesse an derStiftung. Und mir war klar, dass man dieses Interesse mit lebendigen Geschichten füttern musste, nichts lief besser als ein herzergreifendes Schicksal, nichts weckte die Neugierde der Öffentlichkeit mehr als die betroffenen Kinder. Mein Konzept war aufgegangen und ich wollte die Sache gründlich machen.
    Henks Noten in Mathematik waren auf der Inselschule eher durchschnittlich gewesen, doch nun flossen ihm die Zahlen beinahe spielerisch auf das Papier. Liekedeler war erfolgreich mit seiner speziellen Methode, Henk hatte innerhalb eines Tages mit seinen elf Jahren das Wurzelziehen begriffen, da er im Spiel neue Kinder kennen lernte, die wiederum Freunde hatten, sodass er sich schnell in einer großen Gruppe befand, obwohl er nur von drei Kindern die Namen kannte. Freundschaft im Quadrat. Und er war die Wurzel.
    «Wohnen Sie bei Sjard?» Dies war nun eine Frage. Und ich wusste auch, warum er sie stellte: Sjard Dieken war sein Held, seine Vaterfigur. Jeder Schritt, den Sjard unternahm, wurde von Henks wachem Blick registriert.
    Ich streichelte über den nachdenklichen Kopf. «Ich wohne hier im Haus, ja, aber nicht bei Sjard Dieken. Er hat ein eigenes Appartement, es liegt einen Stockwerk tiefer als meines.»
    «Wohnen Sie da unter dem Dach?»
    «Ja, genau. Im dritten Stock, ganz schön hoch, nicht wahr? Das runde Fenster in der Spitze des Giebels ist mein Wohnzimmerfenster. Es ist sehr hübsch dort, man kann bis zum Deich schauen, soll ich es dir mal zeigen?»
    Henk schüttelte den Kopf. «Ich kenne es schon.»
    «Aha, woher denn?», fragte ich erstaunt.
    «Gesa war einmal
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