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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser
Autoren: Sandra Lüpkes
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Ältesten sind bereits über sechzehn und arbeiten auf dem Hof der Eltern. In gewisser Weise hat Gesa großes Glück, dass sie bei uns gelandet ist. Die anderen Geschwister haben meines Wissens kaum Kontakt zu Menschen außerhalb ihrer Familie. Für sie gibt es nur die Schule und die harte Arbeit zu Hause. Die Zustände dort sind beinahe vorsintflutlich: Sie produzieren alles von Hand, haben Vieh und Ackerbau, Obst und sogar einen alten Webstuhl.»
    «Wie bei den Amish», sagte Redenius mit ironischem Lächeln. «Nur dass sie dieses Leben nicht aus religiösen Gründen führen, sondern einfach, weil sie den Fortschritt verpasst haben. Soweit ich weiß, besitzt Familie Boomgarden noch nicht einmal einen Traktor.»
    Gesa Boomgarden zwinkerte noch einmal zu uns herüber, dann wandte sie sich wieder ihrer Feder und ihrem Mikroskop zu.
    «Wir haben sie bei uns aufgenommen, weil wir ihr eine Chance geben wollten. Sie war damals schon ein eigenartiges Kind», erzählte Dr.   Schewe weiter. «Gesa kam mit knapp achteinhalb in die erste Klasse, war unfähig, dem Unterricht zu folgen, und konnte auch mit ihren Mitschülern nicht viel anfangen. Sie stand zwischen den Abc-Schützen da wie eine Vogelscheuche, entschuldigen Sie den Ausdruck. Erst die Mutter einer Klassenkameradin hat uns auf sie aufmerksam gemacht. Sjard Dieken hat sie noch am selben Tag zu uns gebracht. Zum Glück, sie wäre sonst gescheitert. Nicht nur in der Schule.»
    «Wie lange ist es her?», fragte ich, den Blick immer noch mit einer Mischung aus Mitleid und Faszination in die Richtung des Mädchens gerichtet.
    «Gut drei Jahre», antwortete Jochen Redenius neben mir undseine Stimme klang mit einem Mal weich und liebevoll. «Gesa war eines unserer ersten Kinder bei Liekedeler, sie ist uns allen sehr wichtig, verstehen Sie?»
    «Und warum nehmen wir nicht Gesa Boomgarden für unser Vorhaben?» Mir gefiel dieses Schicksal, es war tragisch und kurios zugleich, es war perfekt, auch wenn es für das Mädchen sicher eine fürchterliche Erfahrung gewesen sein musste, plötzlich in die Welt da draußen geworfen worden zu sein. Kurz überdachte ich meinen Eifer, doch diese Gesa Boomgarden sah stark aus, stark und glücklich. Sie würde keinen Schaden nehmen, wenn man sich ihr Leben für einen guten Zweck ausborgte. Vielleicht war es sogar so etwas wie eine Entschädigung, wenn sich alle für sie interessierten, schließlich hatten die Eltern sie einfach vergessen. «Sie ist ein Fall, nach dem sich die Öffentlichkeit die Finger lecken wird. Mit dieser Geschichte werden wir bei jeder Fernsehsendung mit Handkuss genommen.»
    «Es gefällt mir, wie Sie sich engagieren, Frau Leverenz, jedoch kommt Gesa für diese Geschichte nicht infrage», sagte Dr.   Schewe.
    «Und warum nicht?», hakte ich nach, doch bevor ich eine Antwort bekam, wurde die Tür geöffnet. Der Mann, der mit kurzem «Hallo» eintrat, war groß und füllte mit seinem zufriedenen Strahlen den ganzen Raum.
    «Henk hat unglaublich gut mitgemacht, der Kinderpsychologe ist aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen», sagte der Mann und strich sich dabei mit der einen Hand durch die kurzen, hellblonden Haare. Die andere Hand war vertrauensvoll umschlossen von fünf Kinderfingern. Henk Andreesen war ein blasser Junge mit einem Ausdruck des Widerwillens im Gesicht, als müsse er zu einem Kaffeekränzchen der Tante erscheinen,statt mit den Freunden Fußball spielen zu dürfen. Trotzdem gab er mir beinahe schon zu artig die Rechte, die Handfläche war noch feuchter als meine.
    «Sind Sie die neue Sekretärin?», fragte er leise.
    Alle lachten und er schaute erschrocken in die Runde, als hätte er etwas Falsches gesagt. Dann blickte er zu seinem großen Beschützer hinauf. Ich bemerkte erfreut, dass der Mann, der Sjard Dieken sein musste, nicht lachte, sondern den Jungen ruhig ansah und ihm den sicheren Boden unter den Füßen zurückgab.
    «Es ist die neue Frau für die Öffentlichkeitsarbeit. Ihr beide werdet bestimmt noch viel miteinander zu tun haben. Sie sieht doch nett aus», sagte Dieken, doch ich wusste, dass er mich eigentlich noch keines Blickes gewürdigt hatte. Ich hätte es gespürt, denn nun schaute er mich an und ich fühlte seinen klaren, blauen Blick bis in die Zehenspitzen. «Ihr Name ist Okka Leverenz.»
    «Hallo, Henk», sagte ich und lächelte. «Ich freue mich, dich kennen zu lernen. Du kommst von der Insel Juist, nicht wahr? Ich war noch nie dort, aber es soll wunderschön sein, habe
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