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Finnisches Quartett

Finnisches Quartett

Titel: Finnisches Quartett
Autoren: Taavi Soininvaara
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Verschwinden gegeben hatte, er begriff, was geschehen sein mußte, und öffnete den Deckel der Kamera. Auf die DV-Kassette hatte jemand mit schöner Handschrift
»Weihnachtsabend 1995 – Die Familie Dexter«
geschrieben.
     
    Ezrael schaute auf den riesigen Plasmafernseher bei Radio Shack, einem Geschäft für Haushaltsgeräte, nur ein paar Dutzend Meter von Bethesda Computers entfernt, einem Computerladen, in dem er vor ein paar Minuten die Videoaufzeichnungen der Ereignisse in Dexters Haus auf elektronischem Wege an die drei größten Fernsehkanäle der USA geschickt hatte.
    Eine junge energische Verkäuferin stellte sich neben Ezrael und betrachtete ihn mißtrauisch, vielleicht hätte er irgend etwas antworten müssen, als das Mädchen ihn fragte, was er suchte. Aus der Pizzeria nebenan stiegen ihm Gerüche in die Nase, die ihn nicht mehr anekelten, im Gegenteil.
    Die Ereignisse in Dexters Haus flimmerten über den Bildschirm, und sie schwirrten Ezrael durch den Kopf. Der Engel der Offenbarung sah auch im Fernsehen schön aus, genau so wie eine Frau, in die sich Eamon verlieben könnte. Vielleicht würde das auch geschehen, dann, wenn die Veränderung endgültig vollzogen war.
    Er war erschöpft, müder als je zuvor. Es war schwierig, die Gefühle sowohl von Eamon als auch die von Ezrael zukontrollieren: Angst, Schuldgefühle, Reue, Erleichterung, Scham … Einer von ihnen beiden mußte weichen. Er spürte brennende Sehnsucht nach einem ähnlichen Augenblick voller Sicherheit und Glück, wie er ihn mit der Frau, die Papierengel ausschnitt, vor einer Ewigkeit auf dem Berg Croagh Patrick erlebt hatte. Bis zu seinem Geburtstag hatte er noch fünfzig Tage Zeit, und er brauchte zum Fasten nur vierzig. Aber er mußte noch nach Irland gelangen.
    »… und predigt ihr, daß ihre Dienstbarkeit ein Ende hat, denn ihre Missetat ist vergeben; denn sie hat Zwiefältiges empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.«

57
    In seinem Arbeitszimmer im Pentagon drückte Robert Wolferman auf die Fernbedienung und versuchte einen Fernsehkanal zu finden, auf dem Amanda Moreno nicht erzählte, Robert Wolferman habe die iranischen Terroristen beauftragt, das Kernkraftwerk Calvert Cliffs zu sprengen. Schließlich fand sich so ein Kanal: Das brennende Haus John Dexters loderte einen Augenblick auf dem Bildschirm, dann schaltete Wolferman den Fernseher aus. Er hatte die Operation des Nachrichtendienstes der Armee abgebrochen, und das FBI verhörte schon die Ökoterroristen und den finnischen Polizisten. Und ihn selbst würde man jeden Moment abholen. Sein Gehirn weigerte sich, die Ereignisse der letzten Minuten zu verstehen. Die Porträts der Heldengenerale, das Sternenbanner und die Gegenstände, die an die ehrenvollsten Kämpfe in der Geschichte der USA erinnerten, schienen ihn von der Wand aus vorwurfsvoll anzuschauen.
    Es war Ironie des Schicksals, daß er wegen der Entlarvung des Konsortiums der Ölkonzerne scheitern würde: DasKonsortium war nur deswegen gegründet worden, damit man die Morde an den Physikern bei den Ermittlungen auf keinen Fall mit den USA in Verbindung bringen konnte. Das gesamte energiepolitische Programm der USA war bedeutungslos, verglichen mit den außenpolitischen Vorhaben, die er und die anderen wahren Patrioten anstrebten. Sie hatten schon vor Jahren begriffen, daß die USA allzu ängstlich darauf bedacht waren, sich außenpolitisch korrekt zu verhalten: Man mußte es aber wagen, militärische Macht einzusetzen, wenn die politischen Mittel unwirksam waren. Amerika mußte ungeniert die Rolle als Führer der ganzen Welt anstreben. Zur Verwirklichung dieses Ziels wurde das Projekt »Das neue amerikanische Jahrhundert« schon 1997 in Angriff genommen. Ihrer Meinung nach mußte sich die USA überall in der Welt aggressiver verhalten, insbesondere im Nahen Osten. Nur unter der Führung Amerikas würden in der Welt der Frieden erhalten bleiben und Demokratie und Freiheit zunehmen.
    Am Anfang hatten sie auch Glück gehabt: Der 11. September 2001 wurde für sie zu einem absoluten K.o.-Sieg. Dank dem Schock, den dieser Tag ausgelöst hatte, waren die Grundsätze ihres Projekts heute offizielle Außenpolitik der USA, und von den achtzehn neokonservativen Politikern und Beamten, die damals die Erklärung zum »Neuen amerikanischen Jahrhundert« unterschrieben hatten, arbeiteten heute zehn an der Spitze der Machtpyramide der Vereinigten Staaten.
    Nun war alles vorbei, aber vielleicht sollte er es trotzdem
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