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Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen

Titel: Finnen von Sinnen - Finnen von Sinnen
Autoren: Wolfram Eilenberger
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So ist auch über Ausstattung und Inhalt von Aulis’ pömpeli leider nichts Näheres bekannt. Fest steht lediglich, dass er dort seit Jahrzehnten als Funkamateur aktiv ist, denn jedes Jahr zu Weihnachten treffen im Mökki Freundschaftskarten ein - von Deutschen, Dänen, Argentiniern, Australiern und sogar Koreanern.

    Natürlich frage ich mich, wie Aulis das so macht, als monolingualer Finne über Jahrzehnte Funkfreundschaften in aller Welt zu pflegen - aber das ist nur eines von vielen Rätseln, die man besser auf sich beruhen lässt, will man in Finnland jemals heimisch werden.
     
    Noch vor wenigen Minuten, als wir meine Eltern zur Gasthütte am anderen Ufer des Sees zurückfuhren, hat mein Vater sein bestes Englisch aufgeboten, um Aulis zu erklären, wie sehr dieser mittelfinnische Wald ihn doch an die Wälder seiner sächsischen Jugend erinnere, hat von seinen vier Brüdern erzählt, von Fuchsfallen in Panzerbunkern und schönen Barschen im Weiher. »Yes, nice forrest, nice forrest«, hat Aulis ein ums andere Mal geantwortet; und mein Vater hat seine Konversationsbemühungen also bald wieder eingestellt.
    Mein Vater ist mit dreizehn Jahren nicht arbeiten gegangen, sondern aus der DDR geflohen. Er hat nie gesprochen über die Zeit nach der Flucht, nur ein einziges Mal, als ich von der Schule zu fliegen drohte, erzählte er mir von dem ersten Jahr im Allgäuer Flüchtlingslager, von seiner täglichen zweistündigen Bahnfahrt zur Schule und von den Tagen, an denen das Erste, was er aus seinem Stockbett sah, ein erwachsener Mann war, der mit einem Strick um den Hals von den Deckenbalken der Baracke baumelte.
    Ich habe meinen Vater niemals etwas reparieren, ja, ihn nicht einmal arbeiten sehen. Zu der Zeit, da meine Erinnerungen einsetzen, war er bereits in Frühpension. Auch ein pömpeli besitzt er nicht. Nur eine alte Standuhr
aus Eichenholz, in deren Bauch er die leeren Flaschen versteckt.
    Das sei ja was, mal wieder der ganze Wald voller Deutscher, hatte er beim Aussteigen einen letzten Versuch gewagt.
    »Yes, nice forrest. Nice forrest.«
     
    »Der Vater meines Vaters ist auch im Krieg gestorben«, sage ich auf Finnisch in die Stille hinein und habe lange an der grammatisch korrekten Konstruktion dieses Satzes gearbeitet, »als er fünf Jahre alt war.«
    » Juuuu« , erwidert Aulis.
    Das sagen Finnen immer, bevor sie in ihrer Muttersprache eine Antwort geben. Meistens aber ist das Juu selbst die Antwort. Und dabei atmen sie nicht etwa aus, wie es eigentlich zu vermuten wäre, sondern ziehen den Laut ins Innere, saugen ihn in sich auf, was für fremde Ohren immer ein wenig bedrückt und schwermütig klingt.
    Aulis lenkt den Wagen an den rechten Wegrand und bringt ihn zum Stehen. » Siellä« , sagt er und zeigt auf eine dicht bemooste, steil aufsteigende Felswand am anderen Seeufer. Dort habe der Russe sich in einer Höhle versteckt gehalten. Zwei Jahre habe er nach dem Krieg noch ausgehalten - »wie ein Wolf«.
    Ich nicke und bin mir sicher, jedes Wort verstanden zu haben.
    Was mit dem russischen Soldaten geschehen ist, nachdem die Männer des Dorfes ihn gefangen hatten, erzählt Aulis nicht. Aber er sieht mir jetzt direkt in die Augen,
nimmt sich einige Sekunden und fügt mit brüchiger Stimme hinzu: »Oli kova aika.« Es war eine harte Zeit. »Kova aika.«
    Das ist er also, der Pakt, den er schließen will, die Erwartung, die er an mich hat: dass ich der Mann sein werde, der für seine Tochter und Enkel sorgt, der alles für sie geben wird, in guten wie in schlechten Zeiten, vor allem aber, sollte die Wolfszeit eines Tages wieder über das Land hereinbrechen. Er weiß, dass ich für diese Aufgabe schlecht geeignet bin. Ohne meine finnische Frau würde ich in diesem Wald keine drei Tage überleben - nicht einmal im Sommer. Und er weiß, dass ich es weiß.
    »Ymmärrän« , nicke ich, besiegle das übermäßige Bündnis.
    Es ist ja erst der Anfang. Morgen werde ich seiner Tochter versprechen, sie ewig zu lieben, vor einem Gott, an den ich nicht glaube, und Menschen, die ich nicht verstehe.
     
    Der Fiat springt erst beim dritten Startversuch wieder an. Als wir die letzte Biegung erreichen, erwartet uns Mummi auf der Veranda des Mökki, das eigentlich gar kein Mökki mehr ist, sondern ein 100-m 2 -High-Tech-Blockhaus mit fließend Wasser, Fußbodenheizung, Wireless Lan und hundertzwanzig Kanälen angezapften Digitalfernsehens.
    Mummi hat Sorge, dass die Kartoffeln nicht reichen. Seit Tagen spricht sie von kaum
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