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Finne dich selbst!

Finne dich selbst!

Titel: Finne dich selbst!
Autoren: Bernd Gieseking
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in der Kreisliga A und den Erfolgen der Kleintierzuchtvereine. Ich bin ein ganzes Frühstück lang wieder zu Hause, ein Kind der Stadt und der Region. Minden. Kreis Minden-Lübbecke, wo die Melitta-Filtertüte der größte Exportschlager ist und Barre Bräu und Herforder Pils zu den kulturellen Säulen der Region gehören. Ich hänge an all dem, was der »Mühlenkreis« zu bieten hat: an Fachwerk und Feldhamster und früher noch der Feldschlösschenbrauerei, an Meyer-Korn und Stippgrütze, Kohlrabi-Eintopf und Hausschlachtungen. »Am Barre Bräu dein Herz erfreu«, so dichteten die Werbestrategen. Der Volksmund reimte: »Willst du Schwangerschaft verhüten, nimm Melitta-Filtertüten.« Ich hatte zwei Jahre zuvor die kanadische Zentralarktis besucht. Das Erste, was ich in einem kleinen Ort namens Pangnirtung, der nur mit Flugzeug oder im wenige Wochen eisfreien Sommer per Schiff zu erreichen ist, im Supermarkt fand, waren Melitta-Filtertüten. Meine Heimat. Eine Weltstadt. Auf der Packung prangte der Druck: Made in Minden/Westfalen, Germany.
    Ich bezahle mein Zimmer und steige in meinen Volvo. Ich fahre ihn erst seit drei Tagen, habe mich aber erkundigt: Mit anderen Fahrzeugen darf man gar nicht nach Skandinavien einreisen. Außerdem muss man Nokia-Handys benutzen und für die Zeitmessung ausschließlich Uhren von Polar. Ich habe Bücher im Gepäck von Arto Paasilinna, Bücher mit Titeln wie »Der wunderbare Massenselbstmord«, »Der liebe Gott macht blau« und »Der Sommer der lachenden Kühe«. Ich bin vorbereitet, an der Grenze das große Aki-Kaurismäki-Quiz zu bestehen. Für den finnischen Tango sind meine Eltern zuständig. Wie die beiden auf ihrer goldenen Hochzeit zu »Mein schwarzer Zigeuner« über die Tanzfläche schoben, hätte in jedem Senioren-Tanzwettbewerb den Sieg gebracht.
     
    Ich parke auf dem Rasen, der von allerlei Maulwurfshügeln durchsetzt ist, klingele, und mir wird aufgetan.
    »Moin.«
    »Tach, Großer«, grinst mein Vater. Wir geben uns die Hand. Wir sind beide locker unter einssiebzig. Und er wird jährlich kleiner.
    »Moin, Ilse. Und?«
    »Ach, gaht so. Mött.«
    Und? Ach, geht so. Muss. Typisch ostwestfälische Dialoge, in denen wir aber jetzt bereits mehrere versteckte Liebeserklärungen ausgetauscht hatten, die für den mit Region und Mentalität nicht Vertrauten natürlich überhaupt nicht herauszulesen sind.
    Sie haben Koffer, Kartons und Tüten im Hausflur gestapelt. Nun muss das alles im Auto verstaut werden. Jahrzehntelang die absolute Domäne meines Vaters.
    »Ick packe over!« Ich packe aber, sage ich energisch von meinen 1 , 66 zu ihm herab.
    »So? Könnst du datt denn?«, grinst er mich an.
    »Ick sitte vorne«, sagt Ilse. Das ist von beiden die nicht so schnell erwartete, unausgesprochene Zustimmung.
    Ich besehe mir den Stapel im Flur: eine kleine Gebirgslandschaft aus Reisegepäck, mütterlichem Versorgungstrieb und ostwestfälischen Devotionalien. Koffer, gefüllt mit der Reisekleidung, Taschen mit Schuhen, Tüten mit Geschenken. Kartons mit selbstgekochter Marmelade: Erdbeere, Stachelbeer-Kiwi, Erdbeere-Stachelbeere, Brombeeren. Schwarze und rote Johannisbeere gemischt als Gelee. Sensationell lecker übrigens. Apfelmus natürlich auch. Alles frisch gekocht in den letzten Tagen vor der Abreise. Auf unserer Marmelade ist übrigens nie Schimmel. Hermann und Ilse kochen gemeinsam. Sie füllen die Marmelade bis zum Rand am liebsten in kleine Gläser. Das eigentliche Geheimnis aber liegt im Deckel, und zwar fast wortwörtlich. Die Deckel werden direkt vor dem Zudrehen mit Cognac oder Korn kurz ausgespült, quasi desinfiziert, und dann auf das heiße Glas geschraubt. »Wenn dann davon noch was ins Glas tropft, ist das nur gut für die Marmelade«, sagt Ilse.
    Seit wir im Garten nicht mehr selber pflanzen, fahren meine Eltern jährlich zu diversen Erntezeiten auf die Großfelder der ostwestfälischen und niedersächsischen Bauern, ernten und füllen alles in Gefrierbeutel. Es steht mittlerweile sogar extra eine zweite Kühltruhe im Keller. Uns würde nichts, weder ein neuer Krieg noch eine dräuende Naturkatastrophe, weder Vulkanausbrüche im Weserbergland noch Weser-Überflutungen oder Mittellandkanal-Sprengungen, an den Rand einer Hungersnot bringen können. Beide Kühltruhen sind gefüllt. Immer und jederzeit. Die Marmelade wird dann jeweils frisch gekocht, wenn die Kinder kommen. Mit diesen Gedanken packe ich eingemachte Gurken und Rote Bete ins Auto.
    In den Tüten finden
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