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Feuerwasser

Feuerwasser

Titel: Feuerwasser
Autoren: Paul Lascaux
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wohligem Geruch tränkte.
    »Das ist ein heftiger Sprung, vom Wasser zum Schnaps«, sagte Lucy.
    »Halb so wild«, bemerkte Leonie, »selbst in der Schweiz reden wir von gebranntem Wasser.«
    »Wodka«, nuschelte Henry, als er die Flasche aus dem Regal holte, »Verkleinerungsform von Woda, was nichts anderes als Wasser bedeutet.«
    »Also Wässerchen«, ergänzte Leonie.
    »Kleines Wasser passt besser. Es gibt im Russischen noch andere Verkleinerungsformen.«
    »Eau de vie, Lebenswasser«, las Lucie. »Aqua vitae. Akvavit. Was gibt es noch?«
    Henry schielte schon lange auf die oberen Tablare des Gestells, wo die wertvolleren Brände lagerten, befeuchtete mit der Zunge seine Lippen und sagte: »Feuerwasser. Whisky, uisge beatha, wieder nichts anderes als Lebenswasser«, und nahm einen
25-jährigen Coal Ila vom Gestell, der goldgelb ins Degustationsglas floss, gefolgt von einem 20-jährigen Glenkinchie, der leuchtete wie Bernstein, und einem Glen Mhor von 1976, der ins Goldgrüne kippte.
    »Das nenne ich eine Degustation«, betonte er feierlich und kostete ausgiebiger, als es ihm gut tat. Die beiden Frauen hielten wacker mit. Da der Abend doch noch jung war, ließen sie jedoch die notwendige Vorsicht walten.
    »Es ist ja nicht weit ins Bett«, sagte Henry und kraulte Baron Biber hinter den Ohren, der bald sein beruhigendes Schnurren von sich gab. Dann griff er zum Anzeiger für das Nordquartier und las laut und mit Verwunderung vor: »Zierfleisch- und Terrarienbörse.«
    »Das erinnert mich an eine Meldung, die ich gestern gelesen habe«, murmelte Leonie. »In Nordirland haben Hunderttausende von Leuchtquallen bereits zum zweiten Mal eine Lachsfarm angegriffen und alle 140.000 Fische getötet.« Sie seufzte. »Die Rache der Meerestiere. Es war eine Biofarm.«
    Henry hatte plötzlich ein Buch über Kirchen in Rom in der Hand und deutete auf ein Bild des Hochaltars im Petersdom. »Schaut euch das an«, sagte er ungläubig und las die Bildunterschrift: »Großvater und der Abfall der Engel. Was die wohl alles wegschmeißen?« Er stellte es ins Regal zurück. Damit wollte er nichts zu tun haben. Er begeisterte sich noch an der Torfnote eines Lagavulin, dann tippte er auf die Kopie der Zeichnung von Paul Klee Zwei Männer, sich gegenseitig in höherer Stellung vermutend und sagte: »Hier muss ein Dringlichkeitszettel hin, auf dem man ankreuzen kann, welche Bedürfnisse am schnellsten befriedigt werden müssen.«
    Lucy und Leonie schleppten Henry in seine Wohnung, hielten seinen Kopf unter den Kaltwasserhahn und ließen ihn aufs Bett gleiten, wo er sich in einem erstaunlich kurzen Zeitraum erholte, sich an Leonie festkrallte, während Lucy nach oben ging, nicht ohne die Tür für Baron Biber offen zu lassen.
    Was Leonie und Henry in dieser Nacht aufführten, erinnerte an die Jagd nach dem Einhorn, an einen Heuschober im Sommer, an Liszts Klavierdramatik und Paganinis Geigenwahnsinn, an den wilden Ritt auf einem ungebändigten Hengst und schließlich an das ungestüme Rollen der Wellen am Sandstrand, bis sie auf den letzten Kieseln brachen und eine feuchte Leere zurückließen, die die beiden Liebenden in einen ohnmachtsähnlichen Schlummer schickte.
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    1 Siehe Tony Hillerman: ›Der Skelett-Mann‹

Mittwoch, 10. September 2008

    Am anderen Morgen erwachte Heinrich Müller allein im Bett, wenn von Erwachen überhaupt die Rede sein konnte. Sein ausgetrockneter Mund ließ jedenfalls nichts Gutes ahnen, und an der Stelle, wo er sein Gehirn vermutete, machte sich eine breiige Masse breit, die unablässig quälenden Lärm produzierte. Um den zu bekämpfen, gab es nur eine Methode: Er hörte sich Dateien aus seiner Geräuschsammlung auf dem Computer an.
    Müller begann mit dem geisterhaften Singen aneinander reibender Eisberge, das unter Wasser kilometerweit zu hören war. Einem dumpfen Schlagen folgte trauriges Wimmern, plötzlich ein ungebändigter Schrei, dann das zermürbende Sirren einer Kreissäge. Baron Biber spitzte die Ohren. Heinrich hatte darüber nachgedacht, seinen Kater fürs Casting ›Nicht ohne meine Katze‹ (für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet) anzumelden, entschied sich aber letztlich dagegen, da er nicht wusste, wie man eine Filmstarkatze verwöhnen und füttern musste.
    Die Wunder der Geräusche kannten keine Grenzen. Müller lauschte dem nie endenden Brummen einer langsam wandernden Sanddüne. Er beruhigte sich mit dem rhythmischen Klicken des entweichenden Gases, das Unterwasserpflanzen
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