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Feuersteins Reisen

Feuersteins Reisen

Titel: Feuersteins Reisen
Autoren: Herbert Feuerstein
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leeren, geschichtslosen Jahrhunderten wiederbesiedelten, hielten sie und die anderen Monumentalbauten dieses »Ortes, an dem Götter geboren werden« — so der Name Teotihuacan wörtlich — für das Werk von Riesen: die Mondpyramide, die Sonnenpyramide, der Tempel des Quetzalcoatl, dazwischen die breite »Straße des Todes«, gesäumt von unzähligen Palästen, Tempeln und Priesterhäusern. Geradezu selbstverständlich, dass wir hier, an diesem monumentalen Wahrzeichen Mexikos, durchaus vergleichbar mit den ägyptischen Pyramiden, den Reisebericht beginnen würden.
    Es war, wie fast immer in diesem Hochland unweit der Hauptstadt, ein trockener, heißer Tag, und ich musste alle 365 Stufen der Sonnenpyramide zweimal rauf- und runterlaufen, was für mich nur dadurch erträglich wurden dass Wolpers und die anderen beiden viermal rauf- und runterlaufen mussten. Samt Gerätschaft.
    Die Spitze der Sonnenpyramide ist eine kleine Plattform von etwa vier Quadratmetern. Man muss nicht unbedingt schwindelfrei sein, um da oben zu stehen, aber es hilft, denn es gibt kein Geländer, nichts zum Festhalten, und nach allen Seiten führen die Stufen steil nach unten. Der Rundblick ist spektakulär, vor allem in den frühen Morgenstunden, wenn die Luft noch nicht allzu staubig ist. Hier oben würde ich mit meiner goldgerahmten Landkarte stehen, per Hubschrauber würde Stephan vom Vulkan Cerro Gordo her kommen, die Weite der Landschaft erfassen, dann auf mich zufliegen und über mir schweben; ich würde winken und den Begrüßungstext aufsagen, den Anfang wenigstens, denn wegen des Hubschrauberlärms wäre der Ton nicht brauchbar; den eigentlichen Text würde ich schon vorher in einer Naheinstellung abliefern.
    In der modernen Kriminologie gibt es das so genannte Täter-Profil, die Auflistung der Randumstände einer Gewalttat: Art des Vorgehens, Tatwerkzeug, Brutalität oder Heimtücke, Methodik des Eindringens und der Flucht, sowie alle sonstigen Gewohnheiten und typischen Merkmale des Täters. Allein aus dieser forensischen Analyse hätte ich stutzig werden müssen, schon damals in Alaska, spätestens aber in Arabien. Denn es war immer dieselbe Vorbereitung: Aussetzen des Opfers in einem Zustand von Hilf- und Wehrlosigkeit. Immer dasselbe Tatwerkzeug: der Hubschrauber. Immer dieselbe Annäherung: die freundliche, als Arbeit getarnte Begegnung. Und immer derselbe Täter: Wolpers, der Serienkiller. Mit mir als Serie. Aber ich war ja wieder so ahnungslos, so vertrauensvoll. Wie damals Gottkönig Moctezuma.
    Es war lange vor der Öffnungszeit der archäologischen Parks, und die Sonnenpyramide gehörte ganz allein mir. Der Begrüßungstext war abgedreht, Wolpers war ein Dutzend Stufen nach unten geklettert und versteckte sich auf der vom Kamerabild abgewandten Seite, denn es sollte, dem Schauplatz angemessen, ein dramatischer Eindruck werden: ich allein in dem gewaltigen Tal der Geschichte, im ersten Strahl der aufgehenden Sonne, auf der Plattform, wo man den Göttern die Menschenopfer darbrachte: Mit Obsidianmessern schnitt man ihnen bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust, für Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange, für Tlaloc, den Regengott, und für den besonders grausamen Xipe Totec, den Gott des Wachstums, und damit ohnehin mein Todfeind.
    Dann hörte ich das Knattern des Hubschraubers.
    Ich weiß natürlich, dass es ungehörig ist und auch überhaupt nichts nutzt, Piloten zu sagen, wie sie fliegen sollen. Trotzdem hatte ich den unseren im Vorgespräch mehrfach gebeten, beim Schweben darauf zu achten, dass der Hubschrauber auf keinen Fall in meine Richtung nach unten kippen darf — der Rotorschwall würde sonst die Karte zerfetzen, wie damals in Alaska. Kippen ja, aber immer nur weg von mir, mit dem Luftschwall nach oben.
    Dann war der Hubschrauber über mir. Ich winkte, ich lachte und ich freute mich, dass Stephans Schnürsenkel diesmal zugebunden waren — ich hasse schludrige Mitarbeiter. Plötzlich sah ich, wie die Maschine in der Seitenachse zu kippen begann. Bitte nein! Nicht wirklich! Wo soll ich mich denn festhalten?
    Ein erbarmungsloser Luftwirbel erfasste mich. Ich warf mich über die Karte, aber sie explodierte buchstäblich unter mir, die Rahmenteile wirbelten durch die Luft. Ich versuchte, meine Finger in den Fugen zwischen den Pyramidensteinen festzukrallen, aber ich fand keinen Halt. Gleich würde ich sechzig Meter tief in den Abgrund geschleudert werden.
    Dann zerrannen die Bilder vor meinen Augen. Ich sah alles
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