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Feueratem

Feueratem

Titel: Feueratem
Autoren: Tanja Kinkel
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Schatten unter seinen noch dunkleren Augen – als hätte man ihn einer beliebigen Brontë-Schwester entrissen, bevor sie ihn zum Helden eines Romans hatte machen können. Mit seinem schwarzen Haar und dem schwarzen Anzug sah er aus wie eine sehr ernste Dohle, und sein Blick ging durch Mark und Bein, dass man sich ganz klein fühlte und gleichzeitig irgendwie erhaben, weil er einen überhaupt beachtete. Ich sah ihn und kannte sofort all die romantischen Gedanken, die den anderen großen Mädchen, die wie ich in der hinteren Reihe stehen mussten, durch den Kopf gingen.
    Aber nicht mir. Meine romantischen Phantasien bestanden nicht darin, dass ein dunkler Fremder in mein Leben trat und mich auf den Stammsitz seiner Familie entführte. Gegen eine Adoption hätte ich zwar nichts einzuwenden gehabt, aber selbst dann hatte ich nicht vor, lange zu bleiben. Mein Traum – ob ihn nun irgendjemand außer mir romantisch fand oder nicht – war es, mit dem Zirkus durchzubrennen. Die große und wilde Freiheit, jeden Tag an einem anderen Ort zu sein, faszinierte mich. Das entbehrungsreiche Leben auf der einen Seite, der Applaus auf der anderen, und ich mittendrin, hoch oben in der Luft, ganz allein auf dem Drahtseil. Ich stellte mir vor, dass irgendwo der Platz einer Seiltänzerin freigeworden sein musste, seit Elvira Madigan mit ihrem Leutnant davongelaufen war. Es kümmerte mich dabei wenig, dass diese Geschichte schon bald zwanzig Jahre zurücklag – romantische Träume mussten sich nicht um die Realität scheren. Manchmal erschien mir Elvira mit ihrem süßen Gesicht und dem langen, offenen Haar, um das ich sie so sehr beneidete, und flüsterte mir zu, dass sie das alles nur für mich getan hatte, damit ich zum Zirkus gehen konnte. Ich habe Elvira nie verstanden. Wer rennt denn mit einem Leutnant davon, wenn er auch auf dem Seil tanzen kann? Dass sie sich am Ende beide erschossen haben, geschah ihnen nur recht.
    Ich tat mein Bestes, um diesen Traum eines Tages Wirklichkeit werden zu lassen. Auf der offenen Galerie im ersten Stock versuchte ich, wann immer ich mich unbeobachtet fühlte, auf dem Geländer zu balancieren. Dass mir ein Sturz alle Knochen brechen konnte, und den Hals noch dazu, machte es erst recht zu einer Herausforderung. Ich tänzelte über Mauern und Brüstungen, doch ich musste aufpassen, dass mich niemand dabei erwischte – Miss Mountford hatte wenig Verständnis für den Zirkus, und für Seiltänzerinnen noch weniger, aber am allerwenigsten für Mädchen, die ihr Haar lang und offen trugen mit Ponyfransen, die ihnen in die Augen hingen wie bei meiner lieben Elvira. Aber in Gedanken war ich immer beim Zirkus, dachte manchmal, dass es vielleicht auch ganz schön wäre, Akrobatik auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes auszuüben, und fragte mich, ob eine Seiltänzerin auch eine Nebenbeschäftigung haben konnte. Ich war nicht wie die anderen Mädchen, obwohl ich, St. Margaret’s sei Dank, genauso wie sie aussah.
    Als also an jenem Tag der Gentleman kam und wir uns alle in der Halle aufstellen mussten, blieb ich ruhig, auch als sein Blick mich musternd streifte, und hörte nur die Herzen um mich herum pochen. Ich musste zugeben, er sah schon gut aus, dieser dunkle Fremde, aber für einen Zirkusdirektor war er falsch gekleidet: Der schwarze Anzug ließ ihn eher wie einen Bestatter wirken, und so war er mir doch recht egal in dem Moment.
    »Mädchen«, sagte Miss Mountford, »dies ist Mr. Molyneux, der gekommen ist, um euch in Augenschein zu nehmen.« Klang es nicht ganz wie bei einer Landwirtschaftsausstellung? Wer von uns würde wohl den Preis für die fetteste Sau erhalten – keine, denn dafür waren wir alle zu dünn – und wer den für die Kuh mit den schönsten Augen? Ich sah, wie zu meiner Linken die lange Mildred in den Knien einknickte, um kleiner und niedlicher zu wirken, während zu meiner Rechten die zierliche Colleen auf die Zehenspitzen ging und die Brust herausstreckte – solange wir nicht wussten, wofür der Gentleman gekommen war, konnten alle nur raten, was er sehen wollte. Ich blieb stehen, wie ich war. Aber sollte er fragen, wer über das Treppengeländer balancieren konnte, ich würde springen, sofort.
    »Meine lieben Mädchen«, sagte der Gentleman. »Waisenkinder, allesamt.« Als wüssten wir das noch nicht … abgesehen davon, dass es nicht stimmte. Nicht für alle, jedenfalls. Um ein Waisenkind zu sein, musste man überhaupt erst einmal Eltern gehabt haben. »Wie zuvorkommend
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