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Feueratem

Feueratem

Titel: Feueratem
Autoren: Tanja Kinkel
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wirst noch später Zeit haben, uns zu danken«, sagte sie. »Komm jetzt.« Sie schien es ähnlich eilig zu haben wie ihr Bruder, als er mich aus dem Waisenhaus geholt hatte. Der war dafür nirgendwo mehr zu sehen. Nun, es war sicherlich auch schicklicher, wenn eine Lady mich aufweckte, denn ein Gentleman. Wir wollten doch nicht vom ersten Tag an den Dienern einen Grund zum Tuscheln geben!
    Als ich meinen Kopf aus der Kutsche schob, wurde mir fast schwindelig von der frischen Luft. Anstatt dass ich mich freute, aus dem muffigen Kasten zu steigen, der den Geruch von Staub trug, von Myladys zartem Parfüm und langen Jahren in der Remise, erschlug es mich förmlich. Ich roch das Haus, bevor ich es sah, oder zumindest roch ich seinen Garten. Ein Meer von Blumen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Zumindest nicht in natura und in Farbe. Von den schwarz-weißen Kupferstichen im Almanach kannte ich zwar die Namen vieler Pflanzen, und das eine oder andere Exemplar hatte ich natürlich auch auf den sonntäglichen Spaziergängen durch den Park gesehen, aber in dieser Pracht und Vielfalt waren sie neu für mich.
    Ich war den Geruch von Rauch und Nebel gewöhnt, in der Stadt durchzog er selbst der Park, und was dort blühte, hatte keine Chance, zu gedeihen: Bald war es grau vom Ruß. Hollyhock hingegen musste von Tausenden Blumen und Büschen umgeben sein, und ich konnte nur vermuten, dass Flieder darunter war und vielleicht auch die eine oder andere Malve, der das Haus den Namen verdankte, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob Malven um diese Jahreszeit schon blühten. In London taten sie es nicht, aber hier gab es mehr Sonne und bestimmt einen großartigen Gärtner … Die Welt verschwamm vor meinen Augen, und alles, was ich sah, war ein Strudel von Farbe, Rosa in allen Schattierungen der Dämmerung, und es war schön.
    Ich zwinkerte. Mein Blick klärte sich, und jetzt nahm ich endlich auch das Haus wahr. Es übertraf alles, womit ich gerechnet hatte. Das Haupthaus war ein mächtiger Würfel mit hohen Säulen und einem klassizistischen Giebel, den ich dank meiner umfassenden Bildung durch dem Almanach von 1903 und heimlicher Besuche in der Leihbücherei als höchstwahrscheinlich Regency identifizierte. Links und rechts gab es Anbauten, von denen ich nicht sagen konnte, ob sie so alt waren wie der Rest. Es war eine Sache, klassizistische Giebel zu erkennen, aber der Almanach ersetzte keine höhere Schulbildung. Ich konnte nicht sehen, wie viele Kamine Hollyhock hatten. Wenn wir früher spazieren gehen durften, hatten wir Mädchen immer das Kaminspiel gespielt: Gewonnen hatte diejenige, die das Gebäude mit den meisten Kaminen fand. Aber ich stand zu nah am Haus, um irgendetwas vom Dach sehen zu können, geschweige denn von den Kaminen, und so blieb mir nur die Hoffnung, dass es irgendeine Form von Heizung gab, am besten auch in meinem Zimmer. Man durfte ja noch träumen, irgendwie.
    In jedem Fall konnte ich sagen, dass das Haus alt war, alt genug, um den Zahn der Zeit mehr als einmal zu spüren bekommen zu haben. Vielleicht war es etwas schäbig, wenn man das über so ein stolzes Herrenhaus sagen durfte, aber es war wenigstens überhaupt nicht düster. Das Mauerwerk war von einem hellen Grau, das gut zu den Stockrosen passte. Man konnte es nicht wirklich freundlich nennen – das war für Grau auch schwer möglich –, aber es hatte so etwas Schwebendes. Wenn man an St. Margaret’s gewöhnt war, an Backstein, der mit den Jahren von all dem Ruß in der Luft fast schwarz geworden war, fühlte es sich an wie schneeweißer Marmor. Es war schön hier, alles passte zusammen, die Blumen vor dem Haus waren etwas verwildert, das Haus ein wenig heruntergekommen. Tief in mir breitete sich Wärme aus – ich fühlte mich wohl, an einer Stelle tief in mir, die nicht ans Wohlfühlen gewöhnt war.
    Einen kurzen Moment empfand ich Bedauern darüber, dass uns die Kutsche so nah vor dem Eingang ausgespuckt hatte, so dass ich nicht hatte sehen können, wie Hollyhock aus der Ferne wirkte; ich hätte gern gesehen, wie es zwischen den Bäumen im Park auftauchte, aber niemand konnte erwarten, dass Mylady die ganze Auffahrt hinauflief. Nur die Vortreppe, die konnte ihr niemand ersparen. Und ich würde von nun an hier wohnen, das gab mir genug Gelegenheit, um irgendwann einmal den Park und den Garten hinter dem Haus zu erkunden. Das hieß, wenn mich Mr. Molyneux und seine Schwester nicht versklaven und im Keller festketten würden, was natürlich immer
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