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Feueratem

Feueratem

Titel: Feueratem
Autoren: Tanja Kinkel
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von uns tatsächlich alt genug wurden, um den zweiten Weg hinauszufinden: Wer die Schule beendet hatte, der konnte selbst für den eigenen Unterhalt sorgen, und ob die Mädchen nun irgendwo in Anstellung gegeben wurden oder in der Fabrik endeten, das Leben, das sie erwartete, war sicher keinen Schlag besser als das in St. Margaret’s. Aber was gab es besseres als eine anständige Vorbereitung auf Not und Entbehrungen? Der dritte Weg, die Adoption, war der einzige, den wir uns zu wünschen wagten. Und darum gelang es auch kaum einer von uns jemals, ihn zu beschreiten.
    Es kam nicht besonders häufig vor, dass Gentlemen sich zu uns verirrten, schon gar nicht alleine. Wenn es um Adoptionen ging, kamen doch meist Ehepaare, wenn überhaupt: Wer sollte überhaupt St. Margaret’s für eine Adoption in Betracht ziehen? Das Haus, wie aus einem schlechten Dickens-Abklatsch entsprungen, der als Fortsetzung in einer billigen Zeitung erschien, deren Druckerschwärze hinterher an Händen und Schürze klebte, war ein außen großer und dunkler Bau, innen immer noch dunkel, aber überhaupt nicht mehr groß. Es gab dort nur drei Schlafsäle für uns, dazu Küche, Speisesaal und Handarbeitszimmer – natürlich hatte auch Miss Mountford ihre Wirtschaftsräume, aber groß waren die auch nicht, als hätte St. Margaret’s sich so sehr verausgabt beim Versuch, ein eindrucksvolles Äußeres auf die Beine zu stellen, dass fürs Innere nichts mehr übrig blieb. Das Haus war zudem noch so kalt und zugig, dass jede adoptionswillige Mutter damit rechnen musste, die so erworbene Tochter binnen Jahresfrist an die Schwindsucht zu verlieren, und das dämpfte die Freude doch sicherlich gewaltig.
    So mussten wir, die armen Zöglinge, damit rechnen, früher oder später ins Arbeitshaus überzusiedeln, es sei denn, jemand nahm uns vorher in seinen Dienst, denn bei einer Scheuermagd kam es nicht darauf an, wann oder aus welchen Gründen sie der Schwindsucht anheimfiel. Scheuermägde waren viel leichter zu ersetzen als Töchter. Es hieß also die Fabrik oder Dienerschaft – wir konnten uns nicht entscheiden, was davon nun die schlimmere Aussicht war, und so wurden die allergrößten Hoffnungen in die selten genug vorkommenden Adoptionen gesetzt. Niemand musste uns zweimal ermahnen, unsere Haare vor dem Flechten zum saubersten aller Scheitel zu kämmen, die Fingernägel zu schrubben und unser süßestes Sonntagslächeln aufzusetzen, wenn interessierte Herrschaften ihren Besuch ankündigten.
    Der Gentleman, der an jenem schicksalsvollen Tag nach St. Margaret’s kam, hatte sich jedoch nicht angekündigt, was natürlich ein strategischer Schachzug sein konnte: So erwischte er diejenigen Mädchen, die ihr Haar nicht stets senkrecht scheitelten und die Fingernägel nicht sauber hielten, unvorbereitet. Der Gentleman hatte es eilig, wie es schien. Natürlich, so etwas Wichtiges wie eine Adoption sollte man immer übers Knie brechen! Aber auch mit ausführlicher Vorbereitung war die Auswahl zwischen sechzig Mädchen, in drei Reihen nach Größe aufgestellt - alle gekleidet in das gleiche dunkelblaue Leinen und mit den gleichen straff geflochtenen Zöpfen – nicht viel anders als die Wahl eines Hundewelpen aus einem zappelnden Wurf. Aber war er überhaupt wegen einer Adoption gekommen?
    Wir, die wir schon etwas älter waren, hatten die Hoffnung ohnehin aufgegeben. Zum Adoptieren eigneten sich die kleineren Mädchen besser. Jene, die noch nicht so lange in St. Margaret’s waren, dass die karge und strenge Kost von Mrs. Hubert, unserer Köchin, ihre Grübchen glattgebügelt hätte, und deren blondes Haar sich noch lieblich kräuselte, statt durch tausend stramme Zöpfe glattgezogen worden zu sein. Ab einem gewissen Alter wurde niemand mehr adoptiert. Da konnte man nur hoffen, dass ein Gentleman kam, die Reihen entlangschritt und dann erklärte, dieses oder jenes Mädchen wäre in Wirklichkeit die verschollene Erbin von Leicester – seht nur, hier ist das Testament –, um es dann in einer prachtvollen Kutsche davonzufahren zu dem Haus, das von nun an ihr Stammsitz sein sollte.
    Aber nicht so bei diesem Gentleman. Bei ihm kamen die Mädchen auf noch ganz andere Gedanken. Er war groß und schmal, einer, der im Leben noch nie hatte arbeiten müssen, und wenn, dann nicht hart oder körperlich. Es lag so viel Würde in seinen schmalen Schultern, soviel Anmut. Dazu ein fein geschnittenes, ernstes Gesicht mit einem tragischen Zug um den Mundwinkel und dunklen
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