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Feuchtgebiete: Roman (German Edition)

Feuchtgebiete: Roman (German Edition)

Titel: Feuchtgebiete: Roman (German Edition)
Autoren: Charlotte Roche
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vergessen dir zu sagen. Habe beiden nur draufsprechen können. Keinen direkt erwischt. Tut mir leid. Die kommen bestimmt später. Wenn sie die Nachricht gehört haben.«
    »Ja, ja.«
    Er räumt im Zimmer auf. Meinen Tisch hinten, am Fußende, im Badezimmer was, er sortiert meine Sachen auf dem Metallnachtschrank.
    Ich gucke geradeaus und sage ganz leise vor mich hin: »Andere Eltern, deren Tochter so etwas hätte wie ich, wären entweder die ganze Zeit im Krankenzimmer, oder sie säßen zu Hause vor dem Telefon, um ja keinen Notfallanruf zu verpassen. Dafür habe ich wohl mehr Freiheiten. Danke.«
    Ich frage ihn, ob er mal meine neue Spezialität kosten möchte. Ich habe nämlich ein neues Essen erfunden. So langweilig ist mir hier immer, Robin.
    Er möchte gerne mal probieren. Was soll er sonst sagen? Er traut mir voll.
    Ich halte ihm die Studentenfuttertüte mit den Tränentrauben hin. Ich glaube, wenn ein Mann die Tränen von einer Frau isst, sind die beiden für immer verbunden.
    Ich erkläre Robin, was er da grad in der Hand hält. Lasse aber den Teil mit den Tränen weg. Er steckt sich die präparierte Traube mutig in den Mund. Ich höre erst die Traubenhaut platzen, dann die Nuss knacken. Mit vollem Mund sagt er mir, dass er begeistert ist, und fragt, ob er noch mehr essen darf. Gerne. Er nimmt sich eine nach der anderen. Er räumt immer weiter auf und kommt ab und zu zum Metallnachtschrank, um sich eine neue Traube in den Mund zu stecken.
    Die Tabletten wirken noch nicht. Ich bin angespannt und müde. Schmerzen sind vielleicht mal was Anstrengendes. Es ist sehr schwer, in einem Krankenzimmer Leute an sich zu binden. Ich habe das Gefühl, die wollen hier alle schnell raus. Vielleicht riecht es hier nicht gut. Oder mein Anblick ist nicht schön. Oder Menschen wollen einfach weg von Schmerz und Krankheit. Es zieht alle Schwestern und Pfleger und auch Robin immer wieder magisch ins Schwesternzimmer. Da höre ich sie so lachen wie hier im Zimmer nie. Ich als Patientin bin bald weg, und die als Mitarbeiter bleiben. Da verläuft die Grenze. Die hebe ich aber bald auf. Auch ohne medizinische Ausbildung gehöre ich direkt nach meiner Entlassung irgendwie zu ihnen. Als Grüner Engel darf ich auch in ihr lustiges Aufenthaltszimmerchen und mit ihnen Sprudel trinken. Gerade habe ich zum ersten Mal das Gefühl, Robin sucht wirklich meine Nähe. Er geht nicht raus. Er räumt immer weiter auf. Auch an Stellen, die er grad schon aufgeräumt hat. Ich freue mich darüber. Ihn habe ich ein bisschen an mich gebunden.
    Ich hebe den Hörer ab. Wähle die Nummer von Mama. Keiner geht dran. Anrufbeantworter.
    »Hallo, ich bin’s. Wann kommt mich denn mal jemand besuchen von euch? Ich habe Schmerzen und muss wohl noch lange hier bleiben. Schick doch wenigstens mal meinen Bruder vorbei. Der war noch gar nicht hier. Dann besuch ich den auch mal, wenn er eine Untenrumoperation hat.«
    Ich lege auf. Feste. Man hört aber auf einem Anrufbeantworter keinen Unterschied zwischen freundlichem und festem Auflegen.
    Ich hebe den Hörer wieder ab und frage das Amtszeichen:
    »Und warum hast du versucht, dich und meinen Bruder umzubringen, Mama? Geht’s dir nicht gut? Was hast du denn?«
    Helen, du Feigling.
    Ich bin kaputt.
    Ich spreche mit mir selbst und ein bisschen auch mit Robin.
    »Ich halte es nicht mehr aus. Mit mir nicht mehr aus. Andauernd muss ich um Schmerzmittel betteln. Ich lüge hier alle an mit meinem Stuhlgang, damit ich so lange wie möglich bleiben kann, um meine Eltern in diesem Raum wieder zusammenzubringen. Die kommen aber nie. Und erst recht nicht gemeinsam. Wie soll der Plan dann aufgehen? Was für eine Scheiße. Eine riesige Scheiße. Ich bin bescheuert und will Sachen, die sonst keiner will.«
    Ich kann genau spüren, wie die Muskeln an meinen Schultern immer kürzer werden. Das passiert immer, wenn ich merke, dass alles sinnlos ist und ich nichts kontrollieren kann. Die Schultern wandern wegen der Anspannung zu den Ohren hoch, und ich versuche, sie mit gekreuzten Armen und darauf drückenden Händen wieder nach unten zu biegen. Ich mache die Augen zu und versuche, mich mit vorgetäuschten tiefen Atemzügen zu beruhigen. Klappt nicht. Klappt nie. Mein Arsch brennt und zwiebelt, und meine Schultern wachsen an den Ohren fest.
    Meine Oma war ihr Leben lang so angespannt, dass sie jetzt gar keine Schultern mehr hat. Ihre Arme kommen aus den Ohren raus. Sind direkt neben ihrem Kopf. Wenn ich sie mal massieren wollte, als ich
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