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Fesseln der Erinnerung

Fesseln der Erinnerung

Titel: Fesseln der Erinnerung
Autoren: Nalini Singh
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zeigte sich in den schräg stehenden Augen, die europäische Seite hatte sich bei der Körpergröße durchgesetzt – sie schätzte ihn auf etwas unter einem Meter neunzig.
    So weit die Tatsachen.
    Aber die Wirkung war mehr als die Summe der Einzelteile. Er hatte etwas, das die Menschen Charisma nannten. Mediale vertraten zwar vehement die Ansicht, so etwas existiere nicht, aber sie wussten alle, dass das nicht stimmte. Selbst in der Silentium-Gattung gab es einige, die einen Raum betraten und ihn allein durch ihre Gegenwart ausfüllten.
    Sie sah, wie seine Fingerknöchel weiß wurden. „Der hat sich einen runtergeholt bei der Vorstellung, Sie würden in seinen Erinnerungen graben.“ Max erwähnte ihre Narben nicht, aber sie wusste genauso gut wie er, dass sie nicht unerheblich dazu beigetragen hatten, sie für Bonner attraktiv zu machen.
    Sie trug sie schon lange, diese blassen Spuren einer lange zurückliegenden Geschichte, die ihre Vergangenheit war. Ohne sie hätte sie überhaupt keine Vergangenheit gehabt. Bei Max Shannon gab es auch so etwas. Doch es zeigte sich nicht in seinem schönen – nicht nur gut aussehenden, sondern wirklich schönen – Gesicht. „Ich habe Schilde.“ Aber diese Schilde bröckelten, ein unabwendbarer Nebeneffekt ihrer Arbeit. Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, wäre sie keine J-Mediale geworden. Mit acht Jahren war sie vor die Wahl gestellt worden, sich entweder für diesen Beruf zu entscheiden oder zu sterben.
    „Ich habe gehört, dass viele J-Mediale ein fotografisches Gedächtnis haben“, sagte Max und sah sie forschend an.
    „Das stimmt – aber nur in Bezug auf die Dinge, die wir während der Arbeit wahrnehmen.“ Sie hatte vieles aus ihrem „wirklichen Leben“ vergessen, aber nicht einen Augenblick ihrer jahrelangen Arbeit im J-Dienst.
    Max wollte gerade etwas erwidern, als Staatsanwalt Bartholomew Reuben, der mit ihm eng zusammengearbeitet hatte, um Gerard Bonner festzunehmen und zu überführen, sein Gespräch mit zwei Fallanalytikern beendete und herüberkam. „Die Sache mit den männlichen J-Medialen ist ein kluger Schachzug. Wir lassen Bonner ein wenig schmoren – wenn er sich dann kooperativer zeigt, kommen Sie wieder ins Spiel.“
    Max’ Kiefer mahlten, als er antwortete. „Er hat uns lange genug hingehalten – die Mädchen sind nichts weiter als Schachfiguren für ihn.“
    Bevor Reuben etwas darauf sagen konnte, rief ihn ein anderer Analytiker von ihnen weg, und Sophia war wieder allein mit Max. Überrascht stellte sie fest, dass sie bleiben wollte, obwohl ihr Platz nun, da ihre Aufgabe beendet war, bei den anderen M-Medialen gewesen wäre. Doch Perfektion würde sie nicht am Leben erhalten – so oder so würde sie in spätestens einem Jahr tot sein –, sie konnte also auch ruhig dem Verlangen nachgeben, sich noch weiter mit dem Detective zu unterhalten, dessen Gedanken sie so faszinierten. „Sein Ego wird ihn früher oder später dazu bringen, seine Geheimnisse preiszugeben“, sagte sie, mit narzisstisch gestörten Persönlichkeiten hatte sie schon oft zu tun gehabt. „Er wird zeigen wollen, wie klug er ist.“
    „Und, werden Sie sich alles anhören, selbst wenn er das Geheimnis um Daria Xiu zuerst lüftet?“ Seine Stimme hörte sich rau an, als hätte er in letzter Zeit zu wenig geschlafen.
    Daria Xiu war der Grund, warum überhaupt eine J-Mediale hinzugezogen worden war, das wusste Sophia. Die Tochter eines einflussreichen Geschäftsmannes der Menschen war wahrscheinlich Bonners letztes Opfer. „Ja“, sagte Sophia, sie würde dem Detective einen Teil der Wahrheit enthüllen. „Bonner weicht genügend von der Normalität ab, um ein wertvolles Studienobjekt für unsere Psychologen abzugeben.“ Vielleicht weil sich das abnorme Verhalten des Schlächters der Park Avenue auch in statistisch relevanter Zahl bei Medialen gezeigt hatte … die nicht mehr völlig unter dem Einfluss von Silentium standen.
    Der Rat glaubte, die Bevölkerung wisse nichts davon, und vielleicht war es auch so. Doch für eine J-Mediale wie Sophia, die ihr Leben lang immer tiefer in den Sumpf des Bösen vorgedrungen war, hatten die neuen Schatten im Medialnet eine fast fühlbare Struktur – dick und fett durchlöcherten sie gekonnt das neuronale Netzwerk.
    „Und Sie selbst?“, fragte Max und maß sie mit einem solch intensiven Blick, dass es sich anfühlte, als würde er mit seiner raschen Auffassungsgabe Geheimnisse entschlüsseln, die sie über zwei
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