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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer
Autoren: Diana Gabaldon
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Culloden gestorben ist…«, sagte er.
    »Dann wahrscheinlich kurze Zeit später.« Claire sah Roger geradewegs in die Augen. »Ihr habt keine Ahnung, wie es damals war«, sagte sie, »welcher Hunger im Hochland herrschte. Keiner der Männer hat in den Tagen vor der Schlacht noch etwas zu essen gehabt. Und Jamie war verwundet, das wissen wir. Selbst wenn er entkommen ist, es gab niemanden, der… der für ihn sorgte.« Ihre Stimme brach, als sie das sagte. Mittlerweile war sie Ärztin, aber schon in jenen Tagen hatte sie Menschen geheilt. Damals, vor zwanzig Jahren, als sie durch den Steinkreis ging und ihrem Schicksal in Gestalt von James Alexander Malcolm MacKenzie Fraser begegnete.
    Überdeutlich war sich Roger der beiden Frauen im Raum bewußt - des zitternden Mädchens in seinen Armen und der stillen, so gefaßt wirkenden Frau am Schreibtisch. Sie war durch die Zeit gereist, als Spionin verdächtigt und als Hexe eingekerkert worden
- durch ein unvorstellbares Zusammentreffen von Zufällen aus den Armen ihres ersten Mannes Frank Randall gerissen. Und drei Jahre später hatte ihr zweiter Mann, James Fraser, sie und ihr ungeborenes Kind durch die Steine zurückgeschickt, um ihnen das Leid, das ihm bevorstand, zu ersparen.
    Sie hat wirklich genug durchgemacht, dachte er. Aber er war Historiker und wurde von der unstillbaren, skrupellosen Neugier des Wissenschaftlers getrieben, die zu mächtig war, um sich durch schlichtes Mitleid aufhalten zu lassen.
    »Wenn er nicht in Culloden gestorben ist«, setzte er an, resoluter als zuvor, »kann ich vielleicht herausfinden, was wirklich mit ihm geschah. Soll ich es versuchen?« Mit angehaltenem Atem wartete er auf die Antwort. Jamie Fraser hatte gelebt, und Roger gelangte immer mehr zu der Überzeugung, daß es seine Pflicht war, die Wahrheit über sein Leben und seinen Tod herauszufinden. Es stand Jamie Frasers Frauen zu, alles über ihn zu wissen. Für Brianna waren die Fakten womöglich das einzige, was sie je über ihn erfahren würde. Und was Claire betraf - offenbar hatte sie noch nicht begriffen, welche Möglichkeiten sich für sie eröffneten: Sie hatte die Zeitschranke schon zweimal überwunden. Vielleicht konnte sie es noch einmal tun. Und wenn Jamie Fraser in Culloden nicht gestorben war…
    Am Ausdruck der verhangenen bernsteinfarbenen Augen sah er, wie ihr die Erkenntnis dämmerte. Schon unter normalen Umständen war sie blaß, doch jetzt wurden ihre Wangen so bleich wie der Elfenbeingriff des Brieföffners, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
    Lange Zeit sagte sie kein Wort. Unverwandt hielt sie den Blick auf Brianna gerichtet. Dann sah sie Roger an.
    »Ja«, flüsterte sie so leise, daß es kaum zu hören war. »Ja, finden Sie es heraus. Bitte! Finden Sie es heraus.«

3
    Enthüllungen: Frank und frei
    Inverness, 9. Mai 1968
    Auf der Brücke über den River Ness drängten sich die Fußgänger, die zum Abendessen nach Hause unterwegs waren. Roger, der vor mir herging, schirmte mich mit seinen breiten Schultern vor den Stößen der Entgegenkommenden ab.
    Deutlich spürte ich mein Herz gegen den festen Einband des Buches pochen, das ich an die Brust preßte. So ging es mir immer, wenn mir einen Moment lang bewußt wurde, was wir im Sinn hatten. Hingegen wußte ich nicht, welche der beiden Möglichkeiten schrecklicher für mich war: wenn Jamie in Culloden gestorben wäre oder wenn er überlebt hätte.
    Dumpf hallten die Planken der Brücke unter unseren Füßen. Meine Arme schmerzten vom Gewicht der Bücher, die ich trug, und ich verlagerte den Stapel von einer Seite auf die andere. Ich warf einen Blick zurück, ob ich Brianna hinter uns entdeckte, aber sie war nicht zu sehen.
    Roger und ich hatten den Nachmittag bei der Gesellschaft zur Bewahrung von Altertümern verbracht. Brianna war zum Archiv der Hochland-Clans gegangen, um eine Reihe von Dokumenten zu fotokopieren, die Roger aufgelistet hatte.
    »Wie nett von Ihnen, daß Sie sich all diese Mühe machen, Roger«, sagte ich mit lauter Stimme, um den Lärm der Passanten und das Rauschen des Flusses zu übertönen.
    »Schon gut«, erwiderte er ein wenig verlegen, während er wartete, bis ich ihn eingeholt hatte. »Ich bin ja selbst neugierig«, ergänzte er mit einem leichten Grinsen. »Sie wissen doch, wie Historiker sind. Ein ungelöstes Rätsel ist eine Qual für sie.« Er schüttelte sich das windzerzauste dunkle Haar aus der Stirn.

    Ja, Historiker kannte ich wirklich. Schließlich hatte ich zwanzig Jahre
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