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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer
Autoren: Diana Gabaldon
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aber es kümmerte ihn auch nicht. Als er im hellen Licht saß, hatte er zum erstenmal einen Blick auf sein Bein werfen können. Nun war er sicher, daß er nicht mehr lange genug leben würde, um gehängt zu werden.
    Eine grellrote Wunde zog sich von der Mitte des Schenkels nach oben. Sie hatte sich entzündet, und während der Gestank der Männer allmählich aus dem Raum wich, stieg Jamie der süße, faulige Geruch von Eiter in die Nase. Trotzdem, eine rasche Kugel in den Kopf erschien ihm angenehmer als die Fieberträume und das langsame Dahinsiechen, die einen Tod durch eine entzündete Wunde begleiteten. Ob man den Knall wohl noch hörte, fragte er
sich. Dann döste er ein. Wenig später rief ihn Meltons Stimme zurück in die Wirklichkeit.
    »Grey«, hörte er sie sagen, »John William Grey. Kennen Sie den Namen?«
    »Nein«, erwiderte Jamie, vor Erschöpfung kaum noch eines klaren Gedankens fähig. »Hören Sie, entweder Sie erschießen mich jetzt, oder Sie lassen mich in Ruhe! Ich bin krank.«
    »In der Nähe von Carryarrick«, setzte ihm Melton unnachgiebig zu. »Ein Junge, blond, etwa sechzehn. Sie sind im Wald auf ihn gestoßen.«
    Jamie blinzelte seinen Peiniger an. Obwohl ihm das Fieber den Blick trübte, kam ihm das feingeschnittene Gesicht mit den großen, fast schon mädchenhaften Augen vage bekannt vor.
    »Oh!« staunte er. In der Flut von Bildern, die ihm durch den Kopf schossen, trat ein Gesicht deutlich hervor. »Dieser Grünschnabel, der mich umbringen wollte? Aye, ich erinnere mich.« Er schloß wieder die Augen. Wie bei allen Fieberanfällen, die er schon erlebt hatte, schien eine Empfindung in die nächste überzugehen. Er hatte John William Grey den Arm gebrochen. In seiner Erinnerung wurde der zarte Knochen des Jungen unter seiner Hand zu Claires Unterarm, als er sie aus der Umklammerung der Steine befreite. Und die kalte, feuchte Luft, die über sein Gesicht strich, wurde zu Claires liebkosenden Fingern.
    »Wachen Sie auf, Himmel noch mal!« Jamies Kopf fiel nach hinten, als Grey ihn unsanft schüttelte. »Hören Sie mir zu!«
    Matt öffnete Jamie die Augen. »Aye?«
    »John William Grey ist mein Bruder«, erklärte Melton. »Ich weiß von Ihrer Begegnung. Sie haben ihm das Leben geschenkt, und er hat Ihnen ein Versprechen gegeben. Ist das richtig?«
    Angestrengt forschte Jamie in seinem Gedächtnis. Zwei Tage vor der ersten Schlacht, die mit dem Sieg der Schotten bei Preston endete, war er auf den Jungen gestoßen. Die sechs Monate, die zwischen jenem Tag und heute lagen, schienen ein unüberwindbarer Abgrund.
    »Aye, ich erinnere mich. Er hat versprochen, mich umzubringen. Meinetwegen dürfen Sie ihm das abnehmen.« Er konnte die Augen nicht mehr offenhalten. Mußte man wach sein, um erschossen zu werden?

    »Er hat erklärt, er stehe in Ihrer Schuld. Und damit hat er recht.« Melton richtete sich auf, klopfte sich den Staub von den Knien und wandte sich an seinen Leutnant, der die Befragung mit wachsendem Erstaunen verfolgt hatte.
    »Wir stecken in einer Zwickmühle, Wallace. Dieser… dieser jakobitische Verräter ist berühmt. Haben Sie vom roten Jamie gehört, der durch die Flugblätter gesucht wird?« Der Leutnant nickte und musterte neugierig die zusammengesunkene Gestalt zu seinen Füßen. Melton lächelte grimmig.
    »Jetzt sieht er nicht gerade gefährlich aus, nicht wahr? Trotzdem, hier haben wir den roten Jamie, und Seine Gnaden wäre überaus entzückt, wenn er wüßte, welch berühmter Mann uns in die Hände gefallen ist. Da wir Charles Stuart noch nicht gefunden haben, müssen wir die Meute am Tower mit ein paar anderen namhaften Jakobiten zufriedenstellen.«
    »Soll ich Seiner Gnaden eine Nachricht schicken?« Er griff zu seinem Täschchen mit dem Schreibpapier.
    »Nein!« Melton funkelte seinen Gefangenen wütend an. »Das ist ja gerade das Heikle daran. Dieser Mann ist nicht nur ein Feind, sondern auch derjenige, der meinen Bruder bei Preston überwältigt hat. Anstatt ihn zu erschießen, was der Lausejunge eigentlich verdient gehabt hätte, schenkte er ihm das Leben. Und nun«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen, »steht meine Familie in seiner Schuld.«
    »Oje!« sagte der Leutnant. »Dann können wir ihn also nicht an Seine Gnaden überstellen.«
    »Nein, zum Teufel noch mal! Ich kann ihn nicht einmal erschießen, ohne das Versprechen zu brechen, das mein Bruder ihm gegeben hat.«
    Der Gefangene blinzelte zu ihnen hoch. »Ich erzähle es auch niemandem weiter«,
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