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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
Autoren: Mike Carey
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Schuluniformen aus den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts mitsamt Mützen und allem, was dazugehörte. Das dritte Kind trug einen zerrissenen Blouson und ein zerknautschtes Hemd mit Moosflecken auf der Brust.
    Nun, da ich mir ihrer Aufmerksamkeit sicher sein konnte, spielte ich eine andere Melodie. Sie war schneller und hatte einen beschwingteren, komplizierteren Rhythmus. Es war keine Melodie, die einen speziellen Namen hatte oder die ich schon einmal gehört hatte. Es war eher eine musikalische Zäsur in der Wirklichkeit, die in einem leichten Kontrast zu den Melodien stand, die ich gewöhnlich spielte. Sie hörten schweigend und aufmerksam zu.
    Als die Melodie verklang, wechselten sie einen Blick, der mich völlig ausschloss, so wie er alle Lebenden außen vor ließ. Dann rannten sie los, alle gleichzeitig, als wäre ein Signal ertönt, das ich nicht hören konnte. Durch die Gärten, durch die Baumstämme, durch das Maschendrahtgeflecht des weiter entfernten Zauns, über die acht Fahrspuren der North Circular, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
    Ich konnte für sie nicht das tun, was Rosa für Snezhna getan hatte, denn ich wusste nicht, was es außer Furcht und der Unwürdigkeit ihres Todes war, das sie auf der Erde festhielt. Aber ich konnte sie wenigstens so weit befreien, dass sie sich aussuchen konnten, an welchen Orten sie spukten.
    Das war weiß Gott wenig genug.
    *
    Noch später war ich zurück in Harlesden und ging wieder meine Post durch – was, da gerade die Sonnenwende stattfand, bedeutete, dass etwa ein halbes Jahr vergangen war. Draußen war es still, denn es war nach Mitternacht. Der Duft von Kirschblüten drang durch das offene Fenster wie eine Nachricht aus einer anderen Welt. Ich hatte mich gemütlich hingesetzt, die Füße auf den kleinen Aktenschrank gelegt, ein Glas Whisky neben mir und im Herzen ein Gefühl, das ich mit Frieden gleichsetzte.
    Der direkte Auslöser für dieses Gefühl war nicht der Whisky. Es war ein Brief von Rosa Alanovich, die wieder nach Oktjabrskij zurückgekehrt war und offenbar erfolgreich einen kleinen Lebensmittelladen betrieb. Die Entschädigung, die sie vom Criminal Injuries Compensation Board erhalten hatte, war geradezu beleidigend gering gewesen, aber nur nach britischen Maßstäben. In der Wildnis von Primorsk war es ein ganz hübscher Batzen – und Rosa hatte ihn gut angelegt.
    Ich war unendlich weit weg, und mein Schutzwall war so weit unten, dass er fast nicht vorhanden war. Dann, völlig unvorbereitet, wich die Frische der Kirschblüten einem heißen, durchdringenden Fuchsgestank, der sich ebenso schnell zu Tausenden unterschiedlichen Abstufungen unerträglicher Süße auffächerte. Mein Kopf schoss hoch, und meine Füße krachten herab, als hätte irgendein himmlischer Puppenspieler zwischen den Wolken hervorgelugt und heftig an meinen Schnüren gezerrt.
    Sie stand neben dem offenen Fenster, und eine kühle Frühlingsbrise spielte mit ihrem Haar. Sie war nackt, und wie schon vorher fand ich ihre schreckliche Schönheit zugleich erregend und einschüchternd. Lange sahen wir einander stumm an. Der Geruch ließ nach, statt intensiver zu werden, was meine Hoffnung nährte, dass sie in dieser Nacht nicht auf der Jagd war. Aber vorsichtshalber rührte ich mich nicht. Sukkubi reagierten auf rennende Menschen genauso wie Katzen auf eine rennende Maus.
    »Man hat mich für eine spezielle Aufgabe herbeordert«, sagte Juliet schließlich, wobei ihre unglaublich glatte Seidenstimme mich streichelte wie die flache Seite eines Rasiermessers.
    Ich nickte, denn ich wusste genau, wie diese Aufgabe aussah.
    »Ich kann nicht zurückkehren, ehe ich sie nicht abgeschlossen habe.«
    Ich würde es unmöglich bis zur Tür schaffen, ehe sie mich erreichte, und das Einzige, was sich einigermaßen als Waffe eignete, war die Whiskyflasche. Ich ließ so heimlich wie möglich meine Hand darauf sinken.
    Der Augenblick dehnte sich.
    »Mir wäre nie zuvor in den Sinn gekommen«, sagte Juliet, »dass Versagen solche gewaltigen Vorteile mit sich bringen kann. Aber andererseits – so lange ich die Kette trug, kam Versagen nicht infrage. Ich muss dir dafür danken.«
    Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. Ich wollte damit andeuten, dass das Befreien von Dämoninnen zum üblichen Castor-Service gehörte und ein besonderes Dankeschön nicht nötig war oder erwartet wurde. Natürlich, begriff ich vage, Juliets Zuhause war die Hölle – oder auf jeden Fall ein Ort, für den Hölle das einzige
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