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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick
Autoren: Mike Carey
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begriff erst in diesem Augenblick, wie lange ich nicht mehr ausreichend Luft geholt hatte. Als ich feststellte, dass ich mich trotz umfangreicher Schadensmeldungen meines Nackens, meiner Schultern und meines Gesichts wieder bewegen konnte, wandte ich mich Rosa zu und unternahm einen zweiten Versuch, sie von ihrem Knebel zu befreien.
    Ich brauchte weitere fünf Minuten. Als sie endlich das mit Speichel getränkte Stück Stoff ausspucken konnte, das sie die ganze Zeit im Mund gehabt hatte, folgte, was für mich klang wie eine Flut sämtlicher Schimpfwörter, die sie kannte. Zum Glück verstand ich kein Wort Russisch. Daher hätte das, was sie von sich gab, ebenso gut ein Dankgebet sein können.
    Ich befreite ihre Hände, die man ihr mit einer blauen Wäscheleine auf den Rücken gefesselt hatte, und ihre Beine, die mindestens hundertmal mit Klebeband umwickelt und an den Vorderbeinen des Stuhls befestigt waren. Ihr Körper war so verkrampft, dass sie ohne meine Hilfe gar nicht aufstehen konnte. Langsam und unermüdlich führte ich sie in der Kabine hin und her, bis die Durchblutung ihrer Gliedmaßen wieder in Gang gekommen war. Alle paar Sekunden drangen ein Stöhnen, ein Schluchzen oder ein weiterer Fluch über ihre Lippen, und nach einer Weile musste sie sich hinsetzen und ihren protestierenden Muskeln ein wenig Ruhe gönnen. Ich musterte sie schweigend. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Aber nach einer Weile sah sie mit misstrauischer Miene zu mir hoch.
    »Warum hat sie Sie nicht gemordet?«, fragte Rosa mit dumpfer Stimme.
    Eine berechtigte Frage, die ich jedoch in diesem Augenblick nicht beantworten wollte. »Ich habe keine Ahnung«, entgegnete ich. »Ich denke – falls es überhaupt so etwas wie einen Sinn ergibt –, weil sie etwas für Sie empfand. Für Sie und Snezhna.« Sie zuckte zusammen, als sie den Namen ihrer Schwester hörte, und ihr heiles Auge öffnete sich weit, aber sie schwieg. »Vielleicht, weil sie sich einmal in der gleichen Lage befunden hat wie Sie. Sie erinnern sich, dass Sie mit einer Schnur und Klebeband an den Stuhl gefesselt waren und dass Snezhna nach ihrem Tod durch Angst und Kummer und Sorge um Sie in diesem Raum gefangen war? Nun, die Kette, die Juliet um den Knöchel trug, hatte in etwa die gleiche Wirkung. Ich denke, sie hätte mich dafür töten können, dass ich sie befreit habe – das war ein Affront, der mindestens ebenso heftig war wie sie zu fesseln. Aber sie sah, wie ich versuchte, Sie loszubinden und dass ich auch Snezhna befreien wollte. Daher dachte sie, was soll’s, sie könnte jederzeit zurückkehren und mich töten.«
    Ich sagte das, um mich und Rosa zu beruhigen, und ließ mir die Begründung gleichzeitig durch den Kopf gehen. Sie ergab genauso viel Sinn wie alles andere, das mir hätte einfallen können. Man konnte eine Dämonin nicht mit menschlichen Emotionen und Motiven erklären.
    Rosa raffte sich auf, und da sie abgesehen von einem gelegentlichen leichten Humpeln wieder mehr oder weniger vernünftig gehen konnte, traten wir hinaus aufs Deck. Die nächtliche Kühle war wie ein Kuss Gottes. Ich bat sie, einen Augenblick zu warten, begab mich wieder in die Kabine, ging zwischen den Leichen umher und sammelte alles ein, was ich mitgebracht hatte oder auf dem sich möglicherweise meine Fingerabdrücke befanden.
    Sie schien erleichtert aufzuatmen, als ich zurückkam. Dabei hatte ich sie höchstens eine Minute lang allein gelassen. Bedächtig und schwerfällig stiegen wir die Treppe vom oberen Deck hinunter wie zwei altersschwache Rentner, die das Oberdeck eines schwankenden Busses verließen.
    Als wir wieder auf den einigermaßen sicheren, vertrauten Bohlen des Bootsstegs standen, sah ich Rosa an.
    »Sie will Sie sehen«, sagte ich, so gut ich es mit meiner heiseren Stimme vermochte. »Sie will sich vergewissern, dass es Ihnen gut geht. Deshalb ist sie noch dort. In dem Raum. Deshalb wartet sie auf Sie.«
    Rosa brauchte ein oder zwei Augenblicke, um zu begreifen, was ich da sagte. Dann nickte sie. »Ja«, sagte sie.
    »Sind Sie bereit?«
    Diesmal zögerte sie nicht. »Ja.«
    Ich ging voraus.

23
    E s war inzwischen weit nach zwei Uhr nachts, und auf der Eversholt Street war es still wie in einer Totenstadt. Sogar die Nachtbusse, die mit voller Festbeleuchtung leer die Euston Station verließen, sahen aus wie Katafalke, die zu einem Prinzenbegräbnis unterwegs waren.
    Rosa zuckte zusammen, als sie diese Tür sah, aber sie machte keinen Rückzieher. Ich
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