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Felidae

Felidae

Titel: Felidae
Autoren: Akif Pirincci
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etwa einen halber Meter über dem Erdboden, befand sich ein vergammelter Balkon mit einem hoffnungslos verrosteten Geländer. Auf den Balkon konnte man nur durch das Schlafzimmer gelangen, aber ich vermutete, da ß für mich das Klofenster die gängige Pforte zur Außenwelt sein würde. Unter dem Balkon dehnte sich eine weite Betonterrasse aus, die wohl als fix zusammengeschusterte Decke der Weiterführung des Kellers diente. Als Folge der schlampigen Arbeit war diese Betondecke zu großen Teilen aufgesprungen; aus ihren Rissen spro ß undefinierbares Grün hervor. Nach ungefähr fünf Metern verhinderte eine weitere Rostbrüstung, da ß man in der Nacht in einen tiefer gelegenen, kleinen Garten hinunterknallte. In der Mitte dieses vollends verwilderten Gartens wuchs ein extrem hoher Baum, der schätzungsweise zu Attilas Zeiten angepflanzt worden war und sich jetzt herbstgemäß seiner Blätter entledigt hatte.
    Und noch etwas entdeckte ich, als meine Augen umherstreiften: einen überaus beeindruckenden Artgenossen.
    Er hatte sich mit dem Rücken zu mir vor das Terrassengeländer gehockt und glotzte auf den kleinen Garten hinab. Obwohl er, was sein Körpervolumen betraf, locker mit einem Medizinball konkurrieren konnte und seine ganze Gestalt einer drolligen Knetmassenfigur aus einem experimentellen Videoclip glich, bemerkte ich sofort, dass er keinen Schwanz besaß. O nein, er war kein von Natur aus Schwanzloser, man hatte ihm das kostbare Stück einfach abgeschnitten. So schien es jedenfalls. Er war eindeutig eine Maine-Coon, eine schwanzlose Maine-Coon 2 . Es fällt mir schwer, seine Fellfarbe zu beschreiben, denn der Typ sah tatsächlich wie eine wandelnde Malerpalette aus, deren Farben allerdings vertrocknet und schmutzig geworden waren. Der dominierende Farbton war zwar schwarz, doch mischten sich überall beige, braune, gelbe, graue, ja sogar rote Tupfer mit hinein, so da ß er von hinten aussah wie eine riesengroße, etwa sieben Wochen alte Schüssel Obstsalat. Außerdem schien der Kerl fürchterlich zu stinken.
    Gleich würde er mich bemerken und eine Großoffensive starten, weil wahrscheinlich schon sein Urgroßvater auf diese Terrasse gekackt hatte oder weil er bereits 1965 vor dem Obersten Gerichtshof die Sondergenehmigung für sich erstritten hatte, jeden gottverdammten Tag zwischen fünfzehn und sechzehn Uhr von hier oben auf diesen wundervollen Garten hinabzuglotzen. Es war schon ein Kreuz mit diesen Brüdern.
    Ich ließ es darauf ankommen. Was blieb mir übrig?
    Und als wäre er so eine Art lebender Radar, drehte er sich in dem Moment, in dem mir das alles durch den Kopf scho ß , zu mir und starrte mich an - das heißt, starren war vielleicht zuviel gesagt. Er hatte nur noch ein Auge, das andere war offenbar das Opfer eines nervösen Schraubenschlüssels geworden oder infolge einer Krankheit ausgelaufen. Dort, wo vorher das linke Auge gewesen war, befand sich nun eine verschrumpelte, rosarote und im Lauf der Zeit immer hä ß licher gewordene Fleischhöhle. Überhaupt war die gesamte linke Visagenhälfte, wohl infolge einer halbseitigen Gesichtslähmung, zusammengefallen. Aber das bedeutete nicht viel. Mir war klar, da ß höchste Vorsicht geboten war.
    Nachdem er mich, ohne eine Regung zu zeigen, gemustert hatte, drehte er jedoch zu meiner Überraschung seinen Kopf wieder weg und richtete den Blick erneut auf den Garten.
    Höflich, wie ich nun mal bin, beschlo ß ich, mich diesem bemitleidenswerten Fremden vorzustellen, in der Hoffnung, nähere Informationen über meine neue Umgebung aus ihm herauszulocken.
    Ich sprang von der Fensterbank auf den Balkon und von dort auf die Terrasse. Langsam und mit aufgesetzt ausgelassenem Gehabe spazierte ich auf ihn zu, etwa so, als hätten wir uns schon im Sandkasten gegenseitig die Augen ausgestochen. Er nahm das mit majestätischer Gelassenheit zur Kenntnis und unterbrach seine Gartenmeditation kein einziges Mal, um mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Dann stand ich neben ihm und riskierte einen Blick von der Seite. Aus der Nähe potenzierte sich der Eindruck, den er von weitem auf mich gemacht hatte, um das, sagen wir mal, vierunddreißigfache. Im Vergleich zu dieser geschundenen Kreatur hätte selbst Quasimodo realistische Chancen gehabt, in die Dressmanbranche einzusteigen. Zu allem Überflu ß mu ß ten meine inzwischen arg strapazierten Augen wahrnehmen, da ß seine rechte Vorderpfote verstümmelt war. Nichtsdestotrotz schien er seine
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