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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss
Autoren: Anna Geller
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ganz
ruhig“, sagte er dabei. „Ich bringe Sie erst mal ins Auto. Können Sie
aufstehen?“
    Keine Antwort. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Chris sich
entschieden. Diese Frau musste in ärztliche Behandlung, so viel stand fest. Das
Marienkrankenhaus war ganz in der Nähe, näher jedenfalls als die nächste
Möglichkeit zu telefonieren, und Anne hatte Nachtdienst.
    Chris rannte zum Wagen, riss die Beifahrertür auf und hastete zurück.
Er schob den linken Arm in den Rücken der Frau, den rechten unter die
Kniekehlen. Nur mit Mühe brachte er sich mit diesem schlaffen Bündel auf den
Armen in die Senkrechte und stöhnte unwillkürlich auf. Im Film sah das alles so
verteufelt einfach aus. Da trug John Wayne stundenlang einen verletzten Kameraden
durch die Wüste, und Clark Gable nahm die berühmte Treppe auf Tara mit
federnder Leichtigkeit, während Scarlett in seinen Armen lag. Bei den
Dreharbeiten zu dieser Szene hatte er allerdings einen Bandscheibenvorfall
erlitten. Kein Wunder, dachte der eher schmächtig gebaute Chris ernüchtert.
Knappe zehn Meter, und du glaubst, du brichst in der Mitte auseinander!
    Unsanfter als beabsichtigt ließ er die Frau auf den Beifahrersitz
fallen, hob die Beine hinein und drehte die Rückenlehne ein Stück herunter.
Eine Decke! Wieso hatte er keine Decke im Wagen? Schnell schlüpfte er aus
seinem Sakko und legte es über den leblosen Körper. Es war nass, aber sicher
besser als nichts. Noch ehe er um das Auto herumgelaufen war, waren Weste und
Hemd durchweicht. Egal, nicht zu ändern. Er sprang hinter das Lenkrad und
brauste mit durchdrehenden Reifen los. Immer noch hämmerte der Regen
stakkatoartig auf das Blech. Er ließ Gebläse und Heizung auf höchster Stufe
laufen. Trotzdem beschlugen jetzt die Scheiben. Es roch nach nasser Wolle.
    Besorgt warf er einen Blick nach rechts. Die Augen der Frau waren
geschlossen. In feinen Rinnsalen lief Wasser aus den dunklen Haaren in den
Kragen der Bluse. Chris begann plötzlich zu zittern und redete sich ein, es
läge an seinen völlig durchnässten Sachen.
    Wie alt sie wohl sein mochte? Anfang dreißig vielleicht. Lag da, wie
ein schmollendes Kind, die vollen Lippen zusammengepresst. Wie blass sie war.
    Knappe drei Minuten nachdem er an Clark Gable gedacht hatte, bog Chris
in die breite Einfahrt der Notaufnahme ein. Mein Gott, wie oft hatte er das
schon getan? Damals. Wenn er Anne abholte, die todmüde und zerschlagen vom
Dienst kam.
    Er hielt die Frau neben sich fest und bremste unsanft vor den hell
erleuchteten Glastüren. Loser Splitt spritzte von den Reifen hoch und schlug
prasselnd an die Karosserie. Immer noch stand über dem Eingang „Ambulanz N
taufnahme“. Die Leuchtstoffröhre im „o“ war seit Jahren kaputt.
    Noch während Chris ausstieg, trat ein junger Mann in weißen Hosen und
ebenso weißem T-Shirt nach draußen.
    „Ein Notfall!“, rief Chris ihm entgegen. „Doktor Bovolet …“
    Augenblicklich trat der Mann den Rückzug an, und Sekunden später kam
Leben in den Flur hinter den Glastüren. Weiß gekleidete Männer und Frauen, eine
Trage auf Rollen, die pummelige, zu klein geratene Anne mit wehendem Kittel und
wehendem Haar, das sie jetzt hektisch hinten zusammenband.
    Als sie Chris erkannte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre grünen
Augen weiteten sich erschrocken. Aber Chris schüttelte den Kopf und sagte: „Im
Auto.“ Er fühlte sich plötzlich nur noch müde. Und ihm war so verdammt kalt,
dass er beinahe mit den Zähnen klapperte.
    Anne hatte die Beifahrertür aufgerissen und beugte sich in den Wagen.
Nach ein paar Sekunden tauchte sie wieder auf, warf Chris das Sakko zu und rief
über die Schulter: „Macht den kleinen OP fertig!“ Dann verschwand ihr Kopf
wieder in dem Nissan. Chris stand ein wenig abseits und spürte kaltes Wasser in
Bächen aus seinen Haaren rinnen.
    Anne richtete sich endgültig auf, nickte den beiden Männern mit der
Trage zu und trat zur Seite. „Ringerlösung auf Schuss und gleich eine
Kreuzprobe. Lasst Doktor Sieger ausrufen. Ich komme sofort nach.“ Ihr Gesicht
war völlig verändert. Da war nichts mehr von der Weichheit, die Chris
irgendwann einmal gemocht hatte, sondern nur noch angespannte Konzentration.
    „Wer ist das?“, fragte sie ihn, während die Frau aus dem Wagen gehoben
wurde. Auf ihrem kupferroten Haar glitzerten Regentropfen.
    „Keine Ahnung!“ Chris hob die Schultern. „Ich hab sie auf der Straße
gefunden.“
    Annes Blick wurde unnachsichtig und vorwurfsvoll.
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