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Fehlschuss

Fehlschuss

Titel: Fehlschuss
Autoren: Anna Geller
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hatte endlich aufgehört. Aus der Platane direkt vor dem Fenster tröpfelte
es nur noch leise.
    Dann zog sie ihre Jeans herunter und plumpste aufs Bett. Geschickt
streifte sie den Silikonstrumpf ab, der ihren linken Oberschenkel mit der
Prothese verband, und ließ das künstliche Bein mitsamt Hose einfach zu Boden
gleiten. Vorsichtig begann sie, den Beinstumpf zu massieren, bis das Pochen
etwas nachließ. Dabei versuchte sie sich vorzustellen, wie es sich anfühlte,
zwei Beine zu haben. Aber es war zu lange her, als dass sie sich hätte erinnern
können.
    Schließlich brachte sie das Fenster in Kipp-Position und schwang sich
auf den Krücken ins Wohnzimmer. Sie schaltete nur die Lampe über dem Esstisch
ein und blieb unschlüssig stehen. Nach der langen Fahrt brauchte sie dringend
Entspannung. Und es gab zwei Dinge in ihrem Leben, die sie erholsam fand und
die gleichzeitig ihre Leidenschaften waren: Musik hören und lesen. Was also?
    Ihr Blick glitt über die hellen Kiefernregale, die eine Seite ihres
Wohnzimmers einnahmen. Sie waren vollgestellt mit Büchern, CDs und
Musikkassetten. Auf einigen Regalböden standen die Bücher schon zweireihig,
besonders bei den Klassikern und in der Krimi-Abteilung. Karin hatte mehrfach
den Versuch gemacht, Platz zu schaffen. Wollte ein paar Kartons mit Büchern
füllen, die eine Freundin dann auf dem Trödel verkaufen konnte. Aber nie hatte
sie sich auch nur von einem einzigen Buch trennen können. Dann eher noch von
der kleinen Sammlung Porzellan-Katzen, die sie vor kurzem erst
zusammengeschoben hatte, um noch ein paar Wälzer unterzubringen.
    „Mein Gott, Bernie“, murmelte sie jetzt. „Was tätest du wohl, wenn es
keine Bücher gäbe?“ Grauenhafte Vorstellung!
    Endlich entschied sie sich für Musik und legte „Nichts haut mich um“
auf, einen Querschnitt der schönsten Lieder von Hildegard Knef. Sie liebte
nicht unbedingt die Knef, aber den Titel. Auch eine Karin Berndorf haute so
schnell nichts um!
    Bei den ersten Takten der Musik setzte sie sich auf die Couch und
stopfte sich das dicke seidene Kissen zwischen Armlehne und Rücken. So saß sie
am liebsten. Dann zog sie eine Flasche aus dem kleinen Regal neben der Couch,
wo alles deponiert war, was sie gern in Griffnähe hatte. Von der Fernbedienung
für die Stereoanlage, bis zu Zigaretten und Aschenbecher. Und natürlich die
Bücher, die sie gerade las. Auch so eine dumme Angewohnheit von ihr. Wer las
schon mehrere Bücher parallel? Im Moment schmökerte sie gleich in drei Krimis
und zwei historischen Schmachtfetzen.
    Die Handbreit Cognac, die sie sich einschüttete, hatte sie weiß Gott
verdient. Zwölf Stunden Autobahn, von einem Stau zum anderen. Die letzten
hundert Kilometer dann auch noch kübelweise Regen. Na, selber schuld. Sie hatte
sich einfach nicht lösen können von dieser Landschaft, war erst mittags
losgefahren und natürlich in den Freitagsverkehr geraten, der die A 1
regelmäßig verstopfte.
    Sie balancierte den Cognacschwanker auf der rechten Handfläche und
fummelte mit der anderen Hand eine Zigarette aus der Packung. Nur langsam kam
die Entspannung, lockerten sich ihre Glieder. Während die Knef rote Rosen
regnen ließ, überdachte Karin ihre Pläne für die nächsten Tage. Sie brannte
natürlich darauf, die Aufnahmen aus Holstein zu entwickeln, aber das musste
wohl noch ein Weilchen warten. Zunächst war da morgen Nachmittag diese dämliche
Hochzeit eines ehemaligen Kollegen von der Zeitung. Eines netten Kollegen
wohlgemerkt, sonst hätte sie sich niemals breitschlagen lassen, da zu
fotografieren.
    „Zum Teufel mit deiner Gutmütigkeit“, murmelte sie und trank das Glas
leer. „Du bist und bleibst eine dumme Nuss!“ Missmutig drückte sie die halb
gerauchte Zigarette aus. Eine Hochzeit, du lieber Himmel! Das war so ziemlich
das Schlimmste, was einem passieren konnte. Erst die Trauung mit Ringtausch und
allem Brimborium, und dann war man als „rasender Reporter“ unterwegs, um die
Gäste abzulichten, die eine oder andere lustige Szene einzufangen, das Buffet,
die geschmückten Tische. Und der Bräutigam wollte auch noch ausschließlich
digitale Aufnahmen, die sie ihm auf CD brennen sollte. Das war gar nicht ihr
Ding. Sie machte es eigentlich so wie fast alle Profis: Sie fotografierte
analog, entwickelte die Negative ganz konventionell und bearbeitete die Bilder
dann erst am Computer. Aber da der Kunde immer Recht hatte, würde sie natürlich
zur „Digi“ greifen. Dann kam sie wenigstens darum
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