Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feenkind

Feenkind

Titel: Feenkind
Autoren: E Zeißler
Vom Netzwerk:
sich behalten und die Lüge, die ihr gesamtes Leben war, bis zu ihrem Tod weiterleben. Niemand würde es je erfahren.
Niemand außer ihr.
Sie zögerte, doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass sie keine Wahl mehr hatte. Eigentlich hatte sie seit dem Augenblick ihres Erwachens keine Wahl mehr gehabt. Schweren Herzens ging sie die Steintreppe hinauf, die zu den Gemächern ihrer Eltern führte. Sie war bereit.

Vor der massiven Zimmertür blieb sie stehen. Zögernd streckte die junge Frau die Hand zum Klopfen aus und zog sie dann wieder zurück. Sie atmete einmal tief durch und ballte ihre Hände zu Fäusten. Schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte, klopfte sie laut an die vertäfelte Holztür.
Sie hätte es fast nicht gehört, als sie hereingerufen wurde, weil ihr Herz so laut in ihrer Brust pochte - wie würden ihre Eltern auf die Enthüllung reagieren? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Sie öffnete die Tür und trat ins Zimmer.
Ihre Mutter, die an ihrer Frisierkommode saß, fuhrt alarmiert hoch, als sie Dhalia mit ernstem Gesichtsausruck und in voller Reisekleidung plötzlich in das Schlafzimmer kommen sah. "Liebes, was ist passiert?"
Auch ihr Vater musterte sie nervös. Ihm gefiel seine Idee vom Vortag, Dhalia alleine losziehen zu lassen, doch nicht mehr so gut. Insbesondere, als er seine Tochter bereit zum Aufbruch sah.
"Ich habe euch etwas mitzuteilen und es ist besser, wenn ihr euch setzt", sagte sie fest und sprach nicht weiter, bis ihre Eltern verwundert Platz genommen hatten. Sie selbst blieb jedoch stehen. Sie wusste nicht genau, weshalb. Vielleicht hatte sie das Gefühl, so leichter weggehen zu können, wenn ihre Eltern sie nicht mehr wollten. Denn davor hatte sie die meiste Angst. Was würden sie tun, wenn sie erführen, dass sie all die Jahre ein fremdes Kind anstelle ihres eigenen aufgezogen hatten?
Sie blieb also stehen und musterte abschätzend die beiden Menschen, die sie bisher immer als ihre Eltern betrachtet hatte. Dann fing sie mit beherrschter Stimme zu sprechen an. "Ich weiß jetzt, warum gestern nichts geschehen ist." Ihre Mutter wollte etwas sagen, doch sie hob Schweigen gebietend die Hand. "Es bringt auch nichts, noch länger zu warten. Wir könnten ewig warten, ohne dass die Prophezeiung sich erfüllt. Denn nicht ich bin es, die darin gemeint ist." Einen Moment lang sah sie ihren Eltern in die Augen, dann wandte sie ihren Blick ab. Sie könnte die Veränderung darin nicht ertragen, wenn sie ihnen die Wahrheit sagte.
"Ich bin nicht eure Tochter", brachte sie schließlich mit leiser, aber dennoch fester Stimme hervor. Zögernd blickte sie hoch. Sie fühlte sich, als hätte sie ihre Eltern die ganze Zeit über belogen, obwohl sie die Wahrheit selbst erst vor wenigen Stunden herausgefunden hatte.
"Aber natürlich bist du das. Was soll das Ganze, Dhalia?" fragte ihr Vater, erleichtert darüber, dass nichts Schlimmes geschehen war, und ärgerlich über den Schrecken, den sie ihm und seiner Frau durch ihr merkwürdiges Verhalten am frühen Morgen eingejagt hatte.
"Nein, bin ich nicht", entgegnete sie bestimmt. "Ich habe mich heute Nacht an alles erinnert. Ich erinnere mich, wie ich von einer fremden Frau in ein Bettchen in meinem Kinderzimmer... ich meine, in das Kinderzimmer hier im Schloss gelegt wurde, und wie ein anderes Baby - eure Tochter Dhalia - von dort weggeholt wurde. Ich bin es also nicht."
"Dhalia, Schatz, das ist doch absurd. Nur weil du einen schlechten Traum gehabt hast, heißt das noch lange nicht, dass er wahr ist. Gestern war ein schwerer Tag für dich gewesen. Du warst enttäuscht, das verstehen wir. Doch du hast deshalb noch lange keinen Grund, an deinem gesamten Leben zu zweifeln." Ihre Mutter streckte ihre Arme nach Dhalia aus. "Denkst du etwa, wir erkennen unser eigenes Kind nicht?"
Dankbar ergriff Dhalia die Hände ihrer Mutter. Wie gern hätte sie sich von diesen Worten beruhigen lassen. Doch tief in ihrem Herzen hatte sie die unumstößliche Gewissheit, dass ihre Erinnerung sie nicht täuschte. Dennoch, wenn es nur um sie gegangen wäre, hätte sie ihren Eltern mit Freuden zugestimmt und vielleicht sogar selbst die Wahrheit nach und nach wieder vergessen. Aber es ging um viel mehr, als nur um ihre Wünsche und ihr Glück, um sehr viel mehr. Deshalb durfte sie nicht aufgeben, sie konnte es nicht.
"Denkt doch nach." Eindringlich sah sie ihre Eltern an. "Ist euch nie etwas aufgefallen? Habe ich mich als Baby nie sonderbar benommen?"
"Natürlich nicht."
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher