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Fast genial

Fast genial

Titel: Fast genial
Autoren: Benedict Wells
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fahren. Im Hotel buchte er ein Zimmer für eine
Nacht, hinter ihm wartete eine Großfamilie, er hörte den fröhlichen Lärm der
Kinder. Francis fuhr mit dem Aufzug nach oben, steckte die Karte ins Schloss
und warf sich aufs Bett. Er fühlte sich elend und holte das Kuvert aus dem
Mantel. Es enthielt fünflausend Dollar, das Startkapital für seinen Traum.
Dafür hatte er die letzten zweieinhalb Jahre gearbeitet und gespart, besessen
von der Idee, dass man hier eine Million gewinnen konnte, wenn man nur wenige
Male hintereinander richtig setzte.
    Er hatte niemandem etwas gesagt. Nicht seiner
Mutter, die gar nichts verstanden hätte, nicht Anne-May, die ihn für verrückt
erklärt hätte. Er würde hier entweder als Millionär rausgehen oder am Ende
sein.
    Im Moment lag er jedoch auf dem Bett und konnte sich
kaum rühren. Der Plan war einfach gewesen; wieder herzukommen, um es
wenigstens noch ein letztes Mal zu versuchen. Doch jetzt, da er tatsächlich
hier war, wurde ihm bewusst, dass er wirklich nur noch diese eine Chance hatte.
Dass er sich, wenn er scheiterte, am nächsten Tag freiwillig melden würde und
sein Leben damit gelaufen war.
    Francis griff in die Tasche und holte ein weiteres
Kuvert heraus. Es enthielt die besten Fotos von ihrer Reise. Am liebsten mochte
er das Bild, auf dem Anne-May und er nebeneinander am Strand in San Francisco
saßen (da hatte Grover sie heimlich fotografiert), oder das Foto, das ganz am
Anfang per Selbstauslöser entstanden war, kurz bevor sie in New York losgefahren
waren. Sie hatten damals unsicher in die Kamera gelächelt, alles war noch
offen und aufregend gewesen.
    Beim Betrachten der Fotos wurde Francis bewusst, wie
sehr er Grover vermisste. Ihre letzte Begegnung war lange her. Sie waren bei
den Chedwicks gewesen. Seine Eltern hatten gekocht und ihn wie ein lange nicht
gesehenes Familienmitglied begrüßt. Danach hatten er und Grover einen
John-Hughes-Film geschaut und viel gelacht, aber es war nicht mehr so wie
früher gewesen. Grover hatte dauernd von Alistair und einem gemeinsamen
Projekt für eine Website geredet oder von seinem Studium und der neuen
Umgebung, und zu dieser Unterhaltung hatte Francis nicht viel beitragen können.
Er war sich sicher, dass sie an diesem Abend beide ein schlechtes Gefühl gehabt
hatten, weil ihnen klargeworden war, dass sie einander nicht mehr viel zu sagen
hatten. Er hatte das traurig gefunden und Grover fragen wollen, ob er noch
wisse, wie sie mal bei seinen Eltern eine Pflanze gefunden hatten, die eine
Flüssigkeit absonderte, wenn man sie berührte, und wie sie diese bittere
Flüssigkeit getrunken und geglaubt hatten, dadurch Superkräfte zu kriegen. Und
er hatte diesem seltsamen Nerd einfach nur sagen wollen, wie sehr er ihn
vermisste.
    Aber er hatte geschwiegen. Sie hatten dann noch kurz Unreal Tournament gespielt, danach war er gegangen. „Bis bald“, hatte er an
der Tür gesagt, und Grover auch: „Bis bald!“
    Das war vor einem Dreivierteljahr gewesen. Seitdem
hatten sie sich nicht mehr gesehen.
    Francis griff nach dem Zimmertelefon und wählte
Grovers Handynummer. Er ließ es über eine Minute läuten, doch niemand ging ran.
Er fluchte.
    Plötzlich, für ihn selbst überraschend, wählte er
die Nummer von Andy Kinnear. Das hatte er schon seit Monaten tun wollen, doch
nie hatte er sich getraut. Es läutete dreimal, viermal, fünfmal. Endlich
klickte es in der Leitung, und er hörte Andys Stimme.
    Francis wollte schon hallo sagen, da merkte er, dass
es nur der Anrufbeantworter war. Er zögerte kurz, dann legte er auf. Das war's,
schoss es ihm durch den Kopf. Das war sein einziger Versuch. Er schloss die
Augen und massierte sich mit den Fingern die Schläfen.
     
    Er musste kurz eingeschlafen sein, nach dem
Aufwachen fühlte er sich wie erschlagen. Er hatte davon geträumt, wie er
damals, kurz nach Johns Geburt, mit ihm und Anne-May im Bett gelegen hatte.
Aneinandergeschmiegt waren sie zu dritt eingeschlafen. Damals war ihm das
selbstverständlich erschienen, heute wusste er, wie kostbar diese Nacht
gewesen war, vielleicht das Kostbarste, was er jemals erleben würde.
    Immer, wenn er einen Traum mit Anne-May oder John
hatte, war Francis danach benommen. Er brauchte ein paar Sekunden, bis ihm
wieder einfiel, wo er war. Blinzelnd sah er sich um. Im Zimmer die Dunkelheit,
draußen die Lichter.
    Aus seiner Tasche holte er den MP3 -Player.
Zuerst hörte er etwas von Anne-Mays Lieblingsband Arcade Fire, weil ihn die
Songs an sie
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