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Fast genial

Fast genial

Titel: Fast genial
Autoren: Benedict Wells
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Musik. Während Francis aus dem Fenster sah und an
seinen Vegas-Traum dachte, bemerkte er, dass Anne-May ihren Kopf an seine
Schulter gelehnt hatte. Und obwohl das unbequem für ihn war, bewegte er sich
nicht, bis er einen steifen Hals hatte.
     
    Was Anne-Mays Vater ihr angetan hatte, erfuhr er
erst eine Woche später. Sie hatten das Leiterspiel und Mikado gespielt, aber
Francis war aufgefallen, wie aufgeregt Anne-May die ganze Zeit über wirkte. Als
sie fertiggespielt hatten, nahm sie seine Hand. „Komm mit, ich zeig dir was.“
    Sie führte ihn in das Zimmer am Ende des Flurs.
Darin stand nichts als ein weißer Flügel. „Er hat mal einem Patienten gehört“,
sagte Anne-May. „Er hat ihn der Klinik vermacht, bevor er sich auf einem
Freigang erschossen hat.“
    Sie setzte sich auf den Schemel, öffnete den Deckel
und fing an zu spielen. Francis hatte keine Ahnung, was für ein Stück es war,
aber als dieses schwarzhaarige Mädchen die Tasten des Flügels berührte, war
etwas im Raum, was vorher nicht da gewesen war. Anne-Mays Blick war hochkonzentriert,
es schien ihr wichtig zu sein, keine Fehler zu machen. Das Haar fiel ihr immer
wieder ins Gesicht, er war hingerissen.
    Dann verspielte sie sich und brach sofort ab. „Ich
hab vor ein paar Jahren aufgehört“, sagte sie und kniff die Lippen zusammen. „Ich
bin noch etwas aus der Übung.“
    „Hat mir sehr gut gefallen ...“
    Anne-May unterbrach ihn, indem sie den Deckel des
Flügels mit einem Knall zuklappte. „Rauchst du?“, fragte sie.
    Francis kramte eine Schachtel Chesterfields aus
seiner Hosentasche und gab ihr Feuer, dann zündete er sich selbst eine
Zigarette an. Bestimmt war das in der Klinik verboten, aber Anne-May meinte,
dass hier nie jemand reinkomme und dass es der einzige Raum ohne Rauchmelder
sei. Sie rauchten schweigend. Als ihn Anne-May ansah, zog Francis die linke
Augenbraue hoch. Das hatte er bereits als kleiner Junge gut beherrscht und tat
es auch jetzt noch, denn Anne-May schüttelte den Kopf und lachte. Ihm fiel auf,
dass ihre Schneidezähne etwas zu groß waren, es gefiel ihm.
    „Das mit deiner Mom tut mir leid“, sagte sie in
diesem Moment. „Ich habe sie gestern gesehen, als sie beim Essen angestanden
hat. Sie sah ziemlich traurig aus. Ihre Hände haben gezittert, und sie hat
dauernd vor sich hin geredet.“
    Francis war das Thema unangenehm, vorher hatten sie
nie über seine Mutter gesprochen. „Sie ist eben krank“, sagte er und blies
Rauch durch das Zimmer. Als Aschenbecher benutzten sie weiße Tassen aus der
Küche. „Aber die kriegen das immer ganz gut hin mit den Medikamenten.“
    „Ja, schon, aber ich habe gehört, sie ist nicht das
erste Mal in dieser Klinik?“
    „Na ja, die machen hier gutes Chili zum Mittagessen,
da kommt man gern wieder.“
    „Findest du das witzig?“
    Er antwortete nicht und betrachtete seine Hände.
    „Ich weiß, dass ich viel trauriger sein sollte“,
sagte er schließlich. „Und die ersten Jahre war ich das ja auch noch... aber
jetzt kann ich einfach nicht mehr.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Und
manchmal hasse ich meine Mutter auch für das alles.“
    „Aber du liebst deine Mom noch immer?“
    Er nickte, als wäre es ein Schuldeingeständnis.
    „Wie alt bist du?“, fragte Anne-May.
    „Achtzehn. Also fast.“
    „So jung? Du siehst aber ein paar Jahre älter aus.
Ich dachte, du bist Anfang zwanzig, dabei bist du ja noch ein Kind.“ Anne-May
lächelte ihn an, und dieses Lächeln war so entwaffnend, dass er eine Weile
schwieg. Sie gingen in ihr Zimmer, setzten sich aufs Bett und stellten den cd- Player an. Dann fragte er - als wäre es das Selbstverständlichste
der Welt -, wieso sie sich hatte umbringen wollen.
    Anne-May brauchte Zeit, bis sie antwortete. „Kannst
du etwas für dich behalten?“, fragte sie. Als er nickte, lehnte sie sich mit
dem Rücken gegen die Wand. Sie sah ihn nicht an. „Mein Dad hat mich
vergewaltigt.“
    Vor Schreck stand Francis auf. „Was ...“
    Abrupt winkte sie ab. „Das war gelogen. Glaubst du,
ich würde so etwas einfach so erzählen?“ Anne-May schüttelte den Kopf, fast
amüsiert, dann griff sie nach einem Buch und begann darin zu lesen.
    Francis wurde sauer, doch er wollte noch nicht
gehen. Ein paar Minuten lang sagte er nichts. „Du kriegst hier nicht viel
Besuch, oder?“, rutschte es ihm heraus.
    Anne-May antwortete nicht, aber er konnte ihr
ansehen, dass es sie beschäftigte. Ihre Augen flackerten nervös hin und
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