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Fast genial

Fast genial

Titel: Fast genial
Autoren: Benedict Wells
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Fälle von Depression“, hatte er gesagt und auf die Akte
gedeutet. Er hatte gemeint, seine Mom sei nicht schuld an ihrer Krankheit, die
Depression sei vermutlich genetisch in ihr angelegt. Francis hatte damals kaum
zugehört, erst nach und nach war ihm die Bedeutung dieser Worte bewusst
geworden.
    Er sagte seiner Mutter auf Wiedersehen. Bis jetzt
war sie nur auf dem Stuhl gesessen, doch auf einmal sprang sie auf und umarmte
ihn. „Bitte, geh nicht. Du bist alles, was ich habe!“
    Francis war von ihrem Ausbruch so überrascht, dass
es ihm die Kehle zuschnürte. „Mom, ich muss wirklich gehen“, sagte er leise.
    Sie umarmte ihn noch fester. „Lass mich hier nicht
allein, Frankie.“ Sie hatte Tränen in den Augen. „Hol mich hier raus. Bitte!“
    „Aber die helfen dir hier!“
    Ein paar Sekunden lang tat er nichts, dann löste er
sich aus ihrer Umklammerung. „Ich komme morgen wieder. Ich versprech's dir!“
    Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ das
Zimmer. Draußen auf dem Flur lehnte er sich gegen die Wand und atmete durch.
     
    Als er an Anne-Mays Tür klopfte, reagierte niemand.
Er öffnete vorsichtig, doch das Zimmer war leer. Auf ihrem Bett lag Strickzeug,
über einem Stuhl hingen schwarze Klamotten. Auf dem Nachttisch stand das
gerahmte Bild eines kleinen, braunhaarigen Jungen. Francis nahm es in die Hand,
dann betrachtete er die Bücher, die danebenlagen. Eines war dicker als das
andere, und fast alle waren von Leuten geschrieben worden, die mit Vornamen
Jonathan hießen. Er selbst las eigentlich kaum. Ryan hatte ihm früher oft
Bücher geschenkt, ein paar von Twain und Chabon und auch eins von seinem
Lieblingsschriftsteller, diesem Hemingway. In dem Buch war es um einen alten
Fischer gegangen, der eine Menge Pech gehabt hatte, aber dann hatte er draußen
auf dem Meer doch noch einen riesigen Fisch gefangen und... Francis wusste
nicht, wie es ausging, er hatte es nicht zu Ende gelesen.
    Er suchte auf der Station nach Anne-May, doch nirgendwo
war sie, weder beim Pingpong noch im Aufenthaltsraum oder beim Essen. Gerade
wollte er die Klinik verlassen, da hörte er ein lautes Lachen aus dem
Fernsehzimmer am Anfang des Flurs. Dort saß Anne-May und schaute Die Simpsons.
    Francis setzte sich neben sie, doch sie tat, als
wäre es ihr egal. Aus der Nähe fand er sie noch hübscher. Obwohl Anne-May nicht
klein war, wirkte sie filigran. Sie war sehr schlank, ihr Haar pechschwarz und
ihr Gesicht blass und ebenmäßig. Je genauer er hinsah, desto makelloser fand er
es. Er musterte die Verbände an ihren Handgelenken und die Piercings. Francis
hatte nie viel geredet, und in den letzten Jahren war es noch weniger geworden.
Dennoch fühlte er, dass er jetzt etwas sagen musste.
    „Es tut mir leid“, meinte er.
    Keine Reaktion.
    „Ich hätte dich gestern nicht so anstarren dürfen.“
Keine Reaktion.
    „Ich war nur... Es ging alles so schnell.“
    Keine Reaktion. Danach gab Francis auf und schaute
sich die restliche Folge schweigend neben ihr an.
    Die folgenden Tage wiederholte sich dieses Ritual.
Nach den Besuchen bei seiner Mutter setzte er sich wie selbstverständlich noch
zu Anne-May in den Fernsehraum und schaute mit ihr Die Simpsons an.
Anfangs schien es sie zu stören, doch spätestens nach dem vierten Mal hatte sie
sich an ihn gewöhnt. Nach einer Woche kam es ihm sogar so vor, als ob sie ihn
insgeheim erwartete. Diesmal ließ es Francis darauf ankommen und rutschte immer
näher an sie heran, bis sein Bein gegen ihr Bein stieß. Er hatte damit
gerechnet, dass sie sich weiter wegsetzen würde, doch sie blieb dicht neben
ihm. Sie trug eine enge, schwarzglänzende Stoffhose, und er starrte eine Weile
fasziniert auf ihre Beine. Einen Moment schloss er die Augen und stellte sich
vor, wie Anne-May nackt aussah und wie er mit ihr im Bett lag. Er auf dem
Rücken, sie über ihm, ihn küssend, auf seine Unterlippe beißend ...
    Als er die Augen wieder öffnete, merkte er, dass
Anne-May ihn fragend ansah. „Wieso hängst du eigentlich dauernd in dieser
Klinik rum?“
    „Wir haben zu Hause keinen Fernseher.“
    Sie musste lächeln. Zwar nur ein bisschen, aber er
hatte es gesehen. Nach der Folge blieben sie nebeneinander sitzen. Anne-May
schien nachzudenken. „Spielst du gern Mikado?“, fragte sie schließlich.
    Die Frage überraschte ihn. „Wieso? Du?“
    „Nein, eigentlich nicht. Aber es ist so langweilig
hier, und ich hab gesehen, dass es im Aufenthaltsraum ein Mikado gibt. Also,
spielst du so
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