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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
Autoren: Alex Capus
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viel Überzeugungskraft, dass Kriminalrat Schneider eine ganze Anzahl Namen aus dem Gästebuch abschreibt, nicht aber jene von Sandweg und Velte. Das ist schade für den Herbergsvater, denn schon an jenem Sonntagmorgen sind tausend Reichsmark Belohnung ausgesetzt für Hinweise zur Aufklärung des Gablenberger Banküberfalls.

3
    Stunde um Stunde holpert ein Lastwagen nordwärts durch den schmalen Spalt zwischen der Wolkendecke und dem herbstbraunen Land. Auf der leeren Ladepritsche sitzen Kurt Sandweg und Waldemar Velte. Sie haben die Mützen tief ins Gesicht gezogen und die Mantelkrägen hochgeschlagen; zum Schutz vor dem eisigen Fahrtwind pressen sie sich Schulter an Schulter eng an die Rückwand der Fahrerkabine. Die Pistole hat Velte irgendwo ins Gebüsch geworfen. Über viele Kilometer folgt die Straße dem mächtigen Rhein. Die Schleppschiffe blasen mit den Nebelhörnern zum Gruß, wenn sie einander kreuzen, und über die Decks sind Leinen mit nie trocknender Wäsche gespannt. Von den Anhöhen schauen stolze Schlösser und Burgen hinunter auf die braven Bürgerhäuser am Ufer.
    Endlich entfernt sich die Straße vom Fluss. Schon nachmittags um vier Uhr dämmert hier der Abend. Im Westen ziehen schwarz gezackt die Spitzen des Kölner Doms vorbei, und dann sind Waldemar und Kurt wieder zu Hause in Wuppertal, das trotz seiner vierhunderttausend Einwohner keine richtige Stadt ist, sondern eher eine Kette düsterer, krisengeschüttelter Industriedörfer, die sich im engen Tal aneinanderdrängen. Mag sein, dass die Wupper vor vielen Jahrhunderten ein klares Flüsslein in einem lieblichen Tal war; dann aber stellte sich heraus, dass ihr kalk- und eisenfreies Wasser für die Textilindustrie bestens geeignet war. Heute ist sie eine schäumendbraune Brühe, die Fabriken stehen dicht an dicht, und seit dem Börsenkrach von 1929 steht jede zweite still. Hoch über dem Wasser summt die berühmte Schwebebahn, ein genietetes Wunderwerk aus dem vorigen Jahrhundert. Der Nordwind drückt kohlschwarze Rauchfahnen hinunter in die Straßen, und es ist November.
    Kilometerweit fährt der Lastwagen die Wupper entlang; schon naht der östliche Stadtrand. Der Fahrer sieht sich durch die Heckscheibe fragend nach seinen Passagieren um. Endlich klopft Waldemar gegen das Blech der Fahrerkabine, und der Lastwagen bleibt stehen. Waldemar und Kurt winken zum Abschied, springen von der Ladepritsche und stehen mitten auf dem Berliner Platz, nicht weit vom nordöstlichen Stadtrand, wo die Jugendstilhäuser der Fabrikdirektoren Ausblick auf Pferdeweiden und Buchenwälder haben. Eine Weile gehen sie noch zusammen hügelan, dann schütteln sie einander zum Abschied die Hand.
    Waldemar öffnet das Gartentor und schleicht ums Haus. Er hat Glück, der Hintereingang ist nicht abgeschlossen. Im Flur flackert der Widerschein eines Feuers. Im Wohnzimmer beim Kamin steht Waldemars zehnjähriger Bruder Lothar vor der Mutter, die ihm seine brandneue Uniform zurechtrückt. Der Vater ist nicht da; der bemüht sich Tag und Nacht, sein Baugeschäft durch die Krise zu bringen. Im Hintergrund auf dem Sofa sitzt mit untergeschlagenen Beinen Hilde, Waldemars dreizehnjährige Schwester. »Das war das letzte Mal, dass wir drei Geschwister beieinander waren«, wird sie fast sieben Jahrzehnte später sagen. »So was vergisst man nicht. Ich entsinne mich auch, dass ich an jenem Abend ›Pünktchen und Anton‹ von Erich Kästner las. Das war ziemlich neu damals.«
    Der kleine Lothar hat die Mütze tief in die Stirn gezogen. An seiner Seite hängt das Fahrtenmesser mit dem schicken schwarzweißroten Hakenkreuzemblem; auf der Klinge sind die Worte »Blut und Ehre« eingraviert. Als Waldemar eintritt, schnellt Lothar herum und deutet mit ausgestrecktem Arm auf ihn. Sein Kindergesicht verzerrt sich vor Wut.
    »Waldemar! Du sagst jetzt nichts! Nichts, hörst du!«
    »Guten Abend«, sagt Waldemar. Die Mutter lächelt unbehaglich. Hilde sitzt still auf dem Sofa und lässt das Buch in den Schoß sinken.
    »Waldemar! Du!« schreit Lothar, den Arm immer noch ausgestreckt. Dann presst er die Lippen aufeinander und lässt den Arm sinken. Er stampft an Waldemar vorbei, schlägt die Tür zu und geht auf sein Zimmer. Waldemar küsst die Mutter und lässt sich in einen Ledersessel fallen.
    »Nun habt ihr ihm die Uniform also doch gekauft.«
    »Den Winteranzug, ja.«
    »Schmuck.«
    »Was hätte ich denn machen sollen? Den Sommeranzug habe ich ihm ja nicht gekauft und den Sportanzug auch
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