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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake
Autoren: Martin Clauß
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sich nur vorgestellt, wie die Welt aussehen würde, wenn es keine Probleme gäbe. Sie sind die Probleme nicht einmal angegangen.“
    „Isabel, du verstehst nicht“, meinte ihre Mutter hilflos, während sie ihre Zöpfe nervös auf- und zuflocht.
    „Dass ihr damals gegen Vietnam protestiert habt, hielt die USA nicht davon ab, im Irak einzumarschieren! Euer ‚Zurück zur Natur’ hat nicht verhindert, dass die Umwelt immer mehr zerstört wird. Dass ihr die Religionen miteinander versöhnen wolltet, hat nicht verhüten können, dass sich die Menschen wegen ihres Glaubens die Köpfe einschlagen.“
    Isabel war in Fahrt. Sie standen in der Diele, unweit der Vitrine, und die Schneekugel schien hinter der Glasscheibe hervor zu grinsen. Sie ruhte auf ihrem Samtkissen und wirkte stolz und selbstzufrieden.
    „Ihr seid gescheitert, kläglich gescheitert! Ihr wollt es nur nicht einsehen!“, stieß Isabel hervor. „Ihr tut so, als wäre die Zeit stehen geblieben. Aber sie läuft weiter!“
    Der Streit war unvermeidlich gewesen. Mutter hatte sich erdreistet, Kleidung für sie einzukaufen, obwohl das seit Jahren ein no-no war. Isabel hätte ihr diesen Fauxpas vielleicht durchgehen lassen, wenn es diese langweiligen, altmodischen Erwachsenenklamotten gewesen wären, wie andere Eltern sie ihren Kindern kauften. Aber natürlich kam das für ihre Mutter nicht in Frage. Die Frau hatte in einem Geschäft einen purpurroten Hausanzug entdeckt. Mitten auf der Brust leuchtete eine gelbe Sonnenblume, und auf dem Rücken war originellerweise dieselbe Blume noch einmal von hinten zu sehen. Annette Holzapfel hasste es, wenn ihr Kind graue oder schwarze Kleidung trug.
    Zuerst weigerte sich Isabel, das Ding auch nur anzuprobieren. Doch dann schlüpfte sie trotzig hinein, nur, damit ihre Mutter sah, wie lächerlich ihre Tochter sich darin ausnahm. Sie sollte gefälligst sehen, was sie ihr angetan hatte. Frau Mama allerdings war in wahre Begeisterungsstürme ausgebrochen. Sie behauptete, sie hätte noch nie so gut ausgesehen.
    Je länger sie diese Kluft anhatte, die unablässig „Farbe! Ich bin Farbe!“ zu schreien schien, desto tiefer sank ihre Laune. Und sie trug sie immerhin schon seit fünf Minuten ...
    Ohne es zu bemerken, hatte sie plötzlich die Vitrine geöffnet und ihre Hand ins Innere gesteckt.
    Ihre Mutter war verstummt. Der Jogginganzug nicht. Er brüllte noch immer.
    Mutter hatte sogar aufgehört, an ihren Haaren herumzumachen. Ihre Arme hingen jetzt schlaff herab wie bei einer Schlafwandlerin.
    Isabel ertastete die Schneekugel. Sie musste nicht hinsehen, um zu wissen, wo sie war. Sie lag gut in ihrer Hand, so rund und glatt. Sie schien dort hinzugehören. Sie harmonierte in ganz und gar wundervoller Weise mit dem Fetzen, den sie anhatte.
    Isabel wollte noch etwas hinzufügen, wollte noch ein letztes Mal ausdrücken, wie undiskutabel sie diesen Nippes fand. Doch dann fiel ihr ein, dass sie alles Sagenswerte bereits gesagt hatte. Jedes Wort, das sie jetzt noch aussprach, würde ihr nur etwas von ihrer Wut nehmen, und das wollte sie nicht. Lange genug hatte sie ihren Frust in Worte verpackt.
    „Nein“, hauchte Annette. „Das ist ein Erinnerungsstück. Wir haben doch sonst nichts mehr.“
    Isabel hob die Halbkugel hoch, drehte sie um. Weißes Zeug wirbelte auf. Weißes Zeug, das kein bisschen wie Schnee aussah.
    „Isabel“, versuchte es die Mutter noch einmal. „Es ist wirklich unsere einzige Erinnerung. Ich ... hatte einen Kettenanhänger dabei, ein silbernes Kreuz mit einem kleinen Rubin an jeder Ecke. Aber das habe ich in dem Durcheinander verloren ...“
    Himmel, das klingt schon beinahe nach Altersschwachsinn, dachte Isabel. Von dem verlorenen Schmuckstück hatte Mutter ihr schon oft berichtet. Wahrscheinlich hatte es ihr einer der Liebesanbeter gestohlen, um davon seinen nächsten LSD-Trip zu finanzieren. Was hatte es überhaupt mit dieser lächerlichen Schneekugel zu tun?
    „Von wegen die einzige Erinnerung!“, wehrte sich Isabel. „Und was ist mit den Videos? Und der Musik, die den ganzen Tag läuft? Und den Geschichten, den endlosen Geschichten, die ich mir jeden Tag anhören muss? Die einzige Erinnerung – wenn ich das höre, wird mir schlecht! Ich werde dir sagen, was eine einzige Erinnerung ist: dein ganzes Leben ist eine einzige Erinnerung!“
    Annette riss die Augen auf. Es waren nicht die harten Worte selbst, die sie erstarren ließen. Sie spürte, dass jetzt der Moment da war, an dem etwas Schlimmes
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