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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake
Autoren: Martin Clauß
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unbändig freuen würde, das Schmuckstück wiederzubekommen, das sie seit bald vierzig Jahren vermisste.
    Isabel schloss ihre Hand schnell um das Silberkreuz und riss ruckartig daran. Sie tat es in dem Vertrauen, dass die dünne Kette ohne weiteres zerreißen würde.
    Und so war es auch.
    Annette, diese schwarze, kostümierte, Ich-bin-kein-Blumenkind -Annette, öffnete nur den Mund. Mark wollte nach dem Schmuckstück greifen, doch Isabel warf sich herum und verschwand in einer Lücke, die sich auftat und gleich wieder hinter ihr schloss.
    Unsanft kämpfte sie sich weiter, ein Stück weit parallel zur Bühne, dann wieder darauf zu. Sie sah sich um und konnte keine Spur von ihren Eltern erkennen.
    In ihrer Hand spürte sie das kleine Kreuz, und es war ein merkwürdiges Gefühl. Sie war froh und traurig zugleich. Sie hatte es ihrer Mutter gestohlen, um es ihrer Mutter zu geben.
    Jetzt war sie keine dreißig Meter mehr von der Bühne entfernt. Die Umbauarbeiten dort oben schienen nahezu beendet zu sein. Neue Musiker traten in das fahle Rampenlicht. Die Lederkleidung dieser Leute war seltsam schuppig und glänzend. Ein Mann, der ein mittelalterliches Wams trug und nicht zu den Musikern passte, las das Mikrofon vom Boden auf und keuchte hinein:
    „Verehrte Todgeweihte! Es ist soweit. Haltet eure Pflöcke bereit, denn jetzt erscheint auf dieser Bühne das Wesen, auf das ihr alle gewartet habt.“
    Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch plötzlich stand ein gewaltiger Schatten hinter ihm. Ein dreidimensionaler, glänzender schwarzer Schatten.
    Der Mann erschrak, drehte sich um, wollte das Mikrofon an den Dunklen weitergeben, doch dieser schien es nicht haben zu wollen. Hilflos legte der Mann im Wams das Mikrofon auf den Brettern ab und beeilte sich, die Bühne zu verlassen.
    Isabel blieb unwillkürlich stehen. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um die Szene verfolgen zu können.
    Und wurde Zeugin eines unglaublichen Vorgangs.
    Der hünenhafte Schatten trat kraftvoll mit dem Fuß auf das Mikrofon, und die Lautsprecher trugen das Krachen, mit dem es zerbrach, über die kleine Senke hinweg.
    Das Wesen trug eine Bekleidung, wie Isabel sie noch nie gesehen hatte. Sie wirkte ein bisschen wie ein Taucheranzug, bedeckte den Körper des Schattens an einem Stück. Nur das Gesicht blieb frei, und an einigen Stellen schien der Anzug provisorisch geflickt worden zu sein. Wenn der Riesige sich bewegte, platzten diese Stellen eine nach der anderen auf.
    Diese Kleidung sah aus, als wäre es die Haut eines Menschen. Am Stück abgezogen, dann gegerbt oder getrocknet.
    An den Schultern stachen einige große Adlerfedern hervor, und es war unmöglich zu sagen, ob sie in den makabren Anzug eingebunden waren oder dem Unheimlichen direkt aus dem Rücken wuchsen.
    Als er seine Stimme erhob, dröhnte sie mit mörderischer Lautstärke über die menschengefüllten Felder. Und das, obwohl er das Mikrofon eben zertreten hatte.
    „Willkommen zur Erneuerung der Natur“, donnerte er. „Fürchtet euch nicht. Ich bin bei euch und werde euch führen. Hebt jetzt eure Pflöcke ...“
    Isabel stieß einen leisen Schrei aus.
    Dieses Geschöpf ... das konnte niemand anderes sein als Xipe Totec! Der Gott der Mixteken und Azteken, der als Frühlingsbringer verehrt worden war. Die Haut eines zu Tode Geschundenen trug er als Symbol für das Keimen des Lebens im Toten. Ihm hatte man auf den Feldern blutige Menschenopfer dargebracht.
    Auf den Feldern!
    Eine halbe Million Menschen hoben jetzt die mitgebrachten Holzpflöcke in den sich allmählich verdunkelnden Himmel. Sie taten es leise und würdevoll. Oben auf der Bühne knackte das Gewand des Gottes.
    Es war wie das Knacken von Getreidehülsen, nur um ein Vielfaches lauter.
    Irgendwo hinter ihr streckten auch Isabels Eltern ihre Hände mit den Pflöcken in die Höhe. Mark und Annette.
    Bereit, dem Gott zu gehorchen. Bereit, das Ritual auszuführen.
    „Neeeeiiiin!“, brüllte Isabel. „Aufhören!“ Sie schlug wild um sich und stieß die Leute zur Seite, die vor ihr standen. Pflöcke prasselten auf sie herab. Sie kämpfte sich in Richtung Bühne vor, Meter um Meter. Irgendjemand musste diesem Grauen ein Ende machen. Sie begriff die genauen Zusammenhänge nicht, aber eines verstand sie: Da oben stand ein aztekischer Gott und versuchte, den Acker mit dem Blut einer halben Million Menschen zu düngen.
    Wenn sie Glück hatte, überlebte sie das Ganze, denn vermutlich war sie die einzige hier, die keinen
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