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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 10 Woodstake
Autoren: Martin Clauß
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ein obszön klingendes Gurgeln in ein Mikrofon. Es war wie der irre Gesang eines lebendig in einer Gruft Begrabenen.
    Isabel tat minutenlang nichts anderes als die Szenerie zu betrachten und der aberwitzigen Musik zu lauschen.
    Sie fühlte sich hellwach, hatte den Eindruck, ihr Geist sei noch nie so klar gewesen wie in diesen Minuten. Im ersten Moment dachte sie noch an Woodstock, an die Filme, die ihre Eltern ihr immer wieder aufgezwungen hatten, wie man Kindern ein Tischgebet einbläut. Sie stellte Vergleiche an, phantastische Vergleiche zwischen den halbnackten, entspannt im Gras liegenden, Hasch rauchenden, grinsenden Blumenkindern und diesen ernsten, wie versteinert dastehenden, von Kopf bis Fuß in Schwarz gegossenen, weiß geschminkten Gestalten. Unzählige Gegensätze hätte sie anführen können, zwischen dem Konzert von Woodstock und diesem finsteren Bastard von einem Konzert hier:
    Dort Licht, hier Dunkelheit.
    Dort Farben, hier die Abwesenheit von Farbe.
    Dort Harmonie, hier Dissonanz.
    Dort Bewegung, hier Verharren.
    Dort Liebe und Frieden, hier gespanntes Misstrauen.
    Dort Lebensfreude, hier Todeserwartung.
    Woodstock war ein Fest des Aufbruchs und des Neubeginns gewesen. Das hier war eine Zeremonie des Abschlusses, des Beendens.
    Nach einiger Zeit hörte sie auf zu vergleichen. Hörte auf zu beobachten.
    Sie bemerkte, wie in einige der Menschen in ihrer Nähe Bewegung kam. Mit bedächtigen, feierlichen Schritten gingen sie an ihr vorüber, den Hang hinab, in Richtung zum Zentrum des Geschehens. Die meisten hielten den Kopf gesenkt, wie die Teilnehmer einer Bestattungsfeier.
    Das inspirierte sie. Auch Isabel wollte nicht länger eine Zuschauerin sein.
    Barfuß und in den roten Hausanzug gekleidet, näherte sie sich der Menschenmenge. Nach zweihundert, dreihundert Metern wurden die Reihen der dunklen Gestalten dichter. Viele Frauen trugen lange Brokatröcke oder Samtkleider, die bis ins Gras hinab reichten. Andere waren in enges, glänzendes Leder gehüllt. Die meisten trugen ihr Haar lang, schwarz und offen, aber auch altertümliche Kranzfrisuren waren zu sehen. Unter den Männern gab es einige, die sich weite Kutten übergeworfen hatten und wie Satanspriester oder die Mönche eines verborgenen Ordens anmuteten. Viele Männer schienen mit ihren Rüschenhemden und Frackwesten dem viktorianischen Zeitalter entsprungen zu sein, andere hätten mit ihren Hosen aus schwarzem Leder, mit schweren hohen Stiefeln und glattrasierten Köpfen einer Sadomaso-Show entstammen können. In der finsteren Menschenmasse, die aus der Entfernung gleichförmig gewirkt hatte, enthüllte sich bei näherer Betrachtung eine erstaunliche Vielfalt. Isabel entdeckte immer neue Details, neue Schwarz-in-Schwarz-Muster, aufwändige Schnitte und Stickereien, die man beinahe hätte verspielt nennen können, hätte ihnen nicht jeglicher Hauch von Farbe und Lebensfreude gefehlt.
    Einen roten Hausanzug jedenfalls trug niemand außer ihr.
    Wenn sie sich auch in eine andere Kluft gewünscht hätte, wirkte diese Menge merkwürdig beruhigend auf sie. Niemand sprach sie an, niemand belästigte sie. Und trotzdem fühlte sie keine Feindseligkeit. Die Menschen waren mit sich und dem Konzert beschäftigt, in sich gewandt, still. Je enger sich die Grüppchen um sie schlossen, desto wohler fühlte sie sich.
    Es war ein bisschen wie jene Nächte, in denen man langsam in den Schlaf hinüberdämmerte, die verstörenden Gedanken des Tages einen nach dem anderen ablegte und immer mehr ein Teil der Dunkelheit und des Schlafes wurde. Isabel fühlte sich, als könne sie hier körperlich in die Nacht und in den Schlaf hineingehen, mit jedem Schritt ein bisschen mehr.
    Aber es war ein klarer Schlaf, dessen Reich sie betrat. Obwohl sie zahllose Gesichter sah, unendliche Reihen von stummen, wartenden Gestalten, verloren die Gesichter nichts von ihrer Individualität, die Äußerlichkeiten wurden nicht austauschbar. Je weiter sie vordrang, desto klarer wurde ihr Blick, bis sie an jedem einzelnen Tausende winziger Details zu erkennen vermochte. Hätte einer dieser Menschen, an denen sie vorüberkam, ein Kleidungsstück verloren – sie hätte es dem richtigen zuordnen können.
    Isabel war wach, ohne aufgekratzt zu sein, empfindsam und aufnahmefähig, ohne nervös zu sein. Sie hatte nicht geglaubt, dass es einen solchen Zustand überhaupt gab.
    Selbst die dröhnende Musik störte sie nicht. Sie entdeckte Melodien in der Wand aus Lärm, Strukturen, Wiederholungen und
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