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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32
Autoren: Martin Clauß
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reserviertes Lachen, und sie vergaß auch nicht, sich damenhaft die Hand vor den Mund zu halten. „Der Sandmann“, sagte sie erheitert. „Das ist ein Missverständnis. Der Sandmann ist keine Ausgeburt von Angelikas Fantasie.“
    „Nicht?“
    „Den Sandmann, Herr Kommissar, gab es wirklich. Er hieß mit bürgerlichem Namen Horst Preuß.“
    Fachinger notierte sich den Namen auf die Rückseite eines Kassenbons, den er in seiner Tasche fand. Den Bon hatte er erhalten, als er vor zwei Stunden in einer Filiale der Restaurantkette Subway ein Sandwich mit Thunfisch und viel Mayonnaise verdrückt hatte. Irgendwie schaffte er es in letzter Zeit immer wieder, seinen Notizblock im Büro zu vergessen.
    „Den Sandmann namens Horst Preuß müssen Sie mir aber näher erklären“, bat er.
    Frau Siefert schlug den Ordner zu. „Natürlich. Horst war für lange Jahre so eine Art … Faktotum in unserem Haus. Er half überall mit, in der Küche, im Garten, beim Saubermachen, erledigte Hausmeisterarbeiten. Und er kümmerte sich auch um die Kinder. Spielte mit ihnen, beaufsichtigte sie bei den Hausaufgaben.“
    „Ich verstehe. Und der Sandmann?“
    „Kinder schlafen manchmal schlecht ein, Herr Kommissar. Das gilt in Waisenheimen ganz besonders. Oft finden die Kinder nicht die richtige Ruhe, fühlen sich abends in ihren Betten nicht geborgen genug. Horst Preuß erfand deshalb den Sandmann. Er schminkte sich wie ein Clown, verkleidete sich und sprach mit verstellter Stimme. Das war alles sehr … geheimnisvoll. Den Kindern hat es gefallen. Jeden Abend warteten sie darauf, dass der Sandmann in ihr Zimmer kam, sich an ihr Bett stellte, Geschichten erzählte, leise Schlaflieder sang oder sich ihre Sorgen anhörte. Horst wohnte im Haus und machte keinen Urlaub. Er kam jeden Abend, ohne Ausnahme.“
    „Der Sandmann war also eine Art Bezugsperson für die Kinder. Wussten sie, dass Horst Preuß sich hinter der Maskerade verbarg.“
    „Na, ich denke schon, dass es ihnen bewusst war. Aber, sehen Sie, manchmal wollen Kinder das auch gar nicht so genau wissen. Denken Sie an den Weihnachtsmann! Ist es nicht schöner, sich vorzustellen, er käme mit einem Schlitten durch die Luft, als den eigenen Vater hinter dem aufgeklebten Bart zu entlarven?“
    „Sie reden in der Vergangenheit“, stellte Fachinger fest. „Herr Preuß ist also nicht mehr hier und spielt den Sandmann?“
    Ihr Gesicht nahm einen untröstlichen Ausdruck an. Gleichzeitig verkrampften sich ihre Finger wie vor Nervosität auf der Tischplatte, und einen Augenblick später verbarg die Leiterin ihre Hände sogar unter dem Tisch. Sie musste bemerkt haben, dass dem Beamten ihre Unruhe auffiel. „Er hat uns tatsächlich verlassen. Warten Sie, das war im Jahr 91.“
    Damals war Angelika also etwa neun Jahre alt , rechnete Fachinger mit.
    „Wenn Sie sagen, er hat uns verlassen, meinen Sie damit, dass er seine Anstellung aufgab, oder dass er verstarb?“
    „Oh nein, er ging einfach.“
    „Aus welchem Grund?“
    „Ach, das ist so lange her. Ich kann mich nicht mehr recht entsinnen …“
    „Sie verheimlichen mir etwas, Frau Siefert. Warum?“
    Die Heimleiterin atmete tief ein. „Ich habe nichts zu verbergen, Kommissar. Es ist nur … Horst … er wollte mehr vom Leben haben. Er fühlte sich hier … eingesperrt. Ja, ich nehme an, er wollte eine Frau, ein paar Hobbys, ein Auto. Wie das so ist. Es ist mir etwas peinlich, das zuzugeben, aber wir schotten unsere Kinder und auch unsere Mitarbeiter eben ein bisschen von der Außenwelt ab.“
    „Und weil es Ihnen peinlich ist, rückten Sie nicht gleich mit der Sprache heraus.“
    „Sie müssen das verstehen.“
    Wenn es so wäre , dachte Fachinger, würde ich es verstehen. Aber ich bin sicher, Sie verbergen etwas ganz anderes vor mir. Warum war Horst Preuß wirklich gegangen? Da boten sich eine Reihe von Möglichkeiten an. Er konnte sich zum Beispiel an den Kindern vergriffen haben. So etwas kam leider vor. Und die Leitung hielt es geheim, um den Ruf der Institution nicht zu gefährden.
    „Wissen Sie, wo ich Preuß jetzt finden kann?“
    „Mir liegt keine aktuelle Adresse vor.“ Die Leiterin war jetzt sehr angespannt. Fachinger konnte hören, wie sie hinter ihrem Tisch mit den Fingerknöcheln knackte.
    „Schade.“ Fachinger trank seinen Tee aus und erhob sich. „Gut. Das wäre fürs erste alles. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Zeit.“
    Er verließ das Haus Melanchton. Als er eben die Tür seines zwei Straßen weiter
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