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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30
Autoren: Martin Clauß
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Warum hatte er der Polizei nicht wenigstens eine Warnung zukommen lassen? Das galt ebenso für das Attentat auf Kennedys Bruder Robert wie für alle anderen Attentate, Morde und Unfälle, an deren Ort, Zeitpunkt und Hergang er sich erinnern konnte. Martin Luther King hätte noch leben können. Flugzeugabstürze, Schiffsunglücke – so vieles hätte er ungeschehen machen können. Vielleicht hätte er sogar das Reaktorunglück in Tschernobyl abzuwenden vermocht.
    Selbst wenn er nur einen kleinen Teil der Kriege, Unfälle und Grausamkeiten hätte verhüten können, so hätte er damit doch einen Unterschied gemacht. Er war – vermutlich – der erste Mensch, dem das Schicksal diese Chance gewährt hatte. Und wahrscheinlich würde er der letzte sein.
    Aber Sir Darren Edgar hatte nichts getan.
    Wie ein außerirdisches Wesen, das Material für die Annalen der terranischen Geschichte sammelte, hatte er nur beobachtet und all das Unglück und das Leid zugelassen.
    Gab es einen besseren Kandidaten für die Höllenherrschaft?
    „Ich glaube nicht an den Satan“, sagte er mit rauer Kehle. Und damit sprach er die Wahrheit.
    „Das ist gut“, freute sich Napoleon, sein Wahlstratege. „Satan ist tot. Scheitan, Beliar, Mephisto – das ist Vergangenheit. Das Böse hat von nun an einen neuen Namen. Sir Darren Edgar. An ihn musst du glauben, dann werden wir es schaffen.“
    „Ich will nicht.“
    „Wie bitte?“
    „Du hast mich schon verstanden.“ Er sagte es ohne Nachdruck. Er fühlte sich müde. Es war töricht, sich aus der Sache winden zu wollen. Schließlich war er selbst es gewesen, der sich in diese Lage gebracht hatte. Er wunderte sich geradezu, dass er nicht schon früher die Rechnung für das präsentiert bekommen hatte, was er getan … oder besser: nicht getan hatte.
    „Ich verlasse dieses Haus“, stöhnte Sir Darren. „Du hast bestimmt den Schlüssel für die Haustür. Gib ihn mir!“
    „Ich? Ich habe nur die für meine Büroräume. Die Haustür, dafür ist der Doktor zuständig, denke ich. Schließlich ist das hier … eine Art Klinik. Oder war es einmal.“
    Der Doktor! Ihn schauderte. Aber warum eigentlich? Wovor fürchtete er sich? Adolf Hitler war ein Wahnsinniger gewesen, von Minderwertigkeitskomplexen getrieben. Harmlos im Grunde, hätte er nicht die Unterstützung all dieser Leute erlangt, die dachten wie er. Die Versuche, ihn zu einem Fanal des Bösen hochzustilisieren, zeigten deutlich, wie wenig die Menschen mit ihrer Mitschuld umgehen konnten. Er, Sir Darren, war geistig gesund. Und trotzdem hatte er jedes einzelne Unglück in diesen zwei Jahrhunderten persönlich zugelassen. Er war es, vor dem man sich fürchten musste. Er war das Böse in diesem Haus. Es war wie für ihn gebaut. Zu seiner Strafe vielleicht. Wenn er es verlassen konnte … vielleicht konnte er dann auch …
    Ja, was?
    Vergessen?
    Buße tun?
    Der Dozent ließ Napoleon einfach stehen und jagte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. „Doktor!“, brüllte er, noch ehe er ganz oben war. „Kommen Sie raus! Ich muss mit Ihnen reden.“
    Der Flur blieb leer.
    Eilig lief er die offenstehenden Türen ab, spähte in jedes Zimmer. Der Doktor mit dem befremdenden Äußeren stand im OP. Offenbar in Gedanken versunken, hatte er sich über den jetzt leeren Operationstisch gebeugt. Seine Hände malten Kreise in das noch immer schmierige Blut auf der Tischfläche. Dabei brummte er unverständliches Zeug vor sich hin, wie ein Kind, das in sein Spiel vertieft war.
    „Doktor!“ Sir Darren überwand sich und legte dem Mann die Hand auf die Schulter. Jetzt erst zuckte dieser zusammen und drehte den Kopf.
    „Ach“, sagte er nur.
    „Den Schlüssel für die Tür“, forderte der Brite. „Geben Sie ihn mir!“
    Ganz langsam breitete sich ein Grinsen auf dem verklärten Gesicht des Führers aus. „Der Schlüssel also. Ich dachte mir schon, dass Sie früher oder später mit dieser ganz und gar unerfüllbaren Bitte zu mir kommen würden. Natürlich bekommen Sie ihn nicht. Und“, er hob die Stimme, als Sir Darren ihn fester packte, „damit Sie ihn mir nicht mit Gewalt abnehmen, habe ich ihn versteckt. Gut versteckt.“
    Der Dozent schnappte sich eine der Zangen, die herumlagen, brachte sie nahe an den Mund des Arztes. „Ich bin der zukünftige Herr der Hölle“, zischte er. „Ich werde nicht zögern, dir deine Zähne auf dem schmerzhaften Weg zu ziehen.“
    Das Grinsen verschwand nicht. Es wurde nur noch breiter.
    „Nur zu! Ich
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