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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30
Autoren: Martin Clauß
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d’accord , aber gegen den anderen Deutschen, der da oben herumspukt, hätte ich doch nie eine echte Chance gehabt.“
    Sir Darren musste sich setzen. Was ihm der Feldherr da im lockeren Plauderton nahe brachte, hörte sich zum Lachen an, war es aber nicht. Irgendetwas sagte ihm, dass das Schicksal ihm einen gnadenlosen, vernichtenden Schlag verpassen würde, wenn er es wagte, über die Geschichte auch nur zu schmunzeln. Eine Erinnerung in ihm wuchs zu einer Wolke aus Schwärze und Verzweiflung heran. Da gab es etwas, was ihn seit zweihundert Jahren beschäftigte, was ihn manchmal nachts schreiend erwachen ließ. Die ganze Zeit über hatte er es zurückgehalten wie eine drohende Panikattacke. Und nun kam es ans Tageslicht, stand ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber. In der Form dieses durchgeknallten Traumes, der keiner war.
    Er fürchtete die nächsten Worte des Feldherrn. Der historische Napoleon hatte sich an den Briten und ihrer Flotte immer wieder die Zähne ausgebissen. Nun, in der Rolle eines engagierten Werbeagenten, würde Napoleon sich für die Schmach der Niederlagen revanchieren und den Mann von der Insel vernichten.
    „Was bringt dich darauf, dass ich eine bessere Chance hätte, zum Höllenfürsten gewählt zu werden?“, fragte er. Er wollte die Antwort nicht wissen, aber da er sie schon kannte, da sie ihm jetzt, in diesen Sekunden, in ihrem ganzen Ausmaß klar wurde, spielte es keine Rolle mehr.
    Napoleon Bonaparte setzte sich ihm gegenüber auf den freien Stuhl. „In zweihundert Jahren“, meinte er genüsslich, „hast du mehr Unglück angerichtet als jeder andere Mensch auf dem Erdball.“
    Sir Darrens Miene war versteinert. Weder zustimmen konnte er, noch widersprechen. Die Anschuldigung war ungeheuerlich, und noch ungeheuerlicher war das Wissen in ihm, dass der Mann die Wahrheit sprach. In seinen Worten war nicht ein Funke Übertreibung.
    „Ich erinnere mich“, sagte er nach einem endlosen Schweigen zwischen ihnen. „Ich erinnere mich.“

9
    The Truth
    Er war in die Vergangenheit gereist, auf verschiedenen Schiffen, die in Legenden, in Erzählungen und in Gedichten dokumentiert waren. Im Jahr 1798 war er im Hafen von New York eingetroffen. Fast ein dreiviertel Jahrhundert lang hatte er Nordamerika bereist, ehe er 1872 mit der Mary Celeste nach Europa zurückkehrte. Bis ins 21. Jahrhundert hinein hatte er dort darauf gewartet, wieder in seinen gewöhnlichen Lebensfluss einzusteigen. Mehr als zwei Jahrhunderte lang war er keinen Tag älter geworden, nun alterte er wieder.
    In diesen zwei Jahrhunderten, die ihm geschenkt wurden, hatte er viele Länder bereist, Beobachtungen angestellt, nachgedacht. Aber er hatte sich bemüht, nicht aktiv in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Das Risiko, unvorhersehbare Entwicklungen auszulösen, war ihm zu groß erschienen.
    Und dadurch hatte er eine unbeschreibliche Schuld auf sich geladen. Eine Schuld, die vielleicht größer war als die Luzifers, des Engels, der sich hochmütig über Gott gestellt hatte.
    Obwohl er sich in der Geschichte gut auskannte und den Tod und das Leiden von zahllosen Millionen von Menschen hätte verhindern können, hatte er nichts dergleichen getan.
    Er hatte nichts unternommen, um die verheerenden Kriege Napoleons zu verhindern, von dem er wusste, dass er ein Jahr nach dem Beginn seiner Zeitreise die Macht ergreifen würde. Er hatte die beiden Weltkriege nicht abgewendet, Hitler nicht gestoppt. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, den späteren Führer in seiner Kindheit oder Jugend zu töten und damit Millionen von Juden und Nichtjuden das Leben zu retten, Konzentrationslager und alle Schrecken von Verfolgung und Krieg unmöglich zu machen. Er hatte den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki nicht zu stoppen versucht. Er hatte nichts getan, um zu verhindern, dass im Namen des Kommunismus Millionen von Menschen hingerichtet wurden.
    Und das waren nur die größten Ereignisse dieser Zeit. Dutzende anderer Dinge kamen ihm spontan in den Sinn. Wenn nicht auf internationaler und militärischer Ebene, so hätte er doch im Kleinen Menschenleben retten können. Hätte berühmte Morde aus der Geschichte zu streichen vermocht. Warum war er im Jahr 1888 nicht in London gewesen? Er hätte die brutalen und geheimnisumwitterten Taten des Jack the Ripper verhindern können. Warum hatte er sich im November 1963 nicht in Dallas, Texas aufgehalten, um rechtzeitig einzugreifen, ehe das Attentat auf John F. Kennedy verübt wurde?
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