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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30
Autoren: Martin Clauß
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Lebensgefahr schwebte. Hinter den Kulissen dieser Farce lauerte etwas Böses, das spürte er. Er durfte in seiner Wachsamkeit keine Sekunde nachlassen.
    „Nicht ganz tot?“, lachte Napoleon. „Bis zum Ende der Trauerrede wird er es sein.“
    Und die Rede begann. Der bärtige, kaum wahrzunehmende Priester in der Kanzel sprach. Luzifers Totenfeier nahm ihren Lauf.

6
    „Verehrte Gemeinde! Wir sind heute zusammengekommen, nicht, um ein Individuum zu begraben, nein, um einer ganzen Gesellschaftsordnung Lebewohl zu sagen. Satan, Luzifer, Asmodis, wie immer wir ihn nennen mögen, ist nur vordergründig an einem Unfall gestorben – in Wirklichkeit war es sein System, das ihn tötete. Ein System, das die Bedürfnisse des Höllenproletariats ignorierte und die Revolution notwendig machte. Eine Revolution von unten, und das ist ein wichtiger Punkt, verehrte Anwesende, denn auch in der Hölle sind die Oberen oben und die Unteren unten, was man sich erst einmal bewusst machen muss, wenn man verstehen will, dass …“
    Napoleon stupste Sir Darren mit dem Ellbogen an. Seine Hand steckte unter seiner Weste. „Er ist ein unerträglicher Redner. Ein Philosoph eben. Er benutzt solche Veranstaltungen zu Propagandazwecken. Na, wenigstens wird das Satan den Rest geben.“
    „Das und ein Bauch voller Steine“, rutschte es Sir Darren heraus.
    Napoleon hob die Brauen. „Man sagt, du hättest dich oben als Arzthelfer betätigt.“
    „Ich habe ihn nicht angefasst.“
    Lautes Gemurmel hüllte sie ein. Beinahe jeder der Trauergäste unterhielt sich mit seinem Nachbarn. Niemand wollte hören, was der Priester sagte. Dieser streckte plötzlich seinen Oberkörper vor, und sein Gesicht tauchte aus den Schatten auf. Sir Darren wunderte es nicht, dass er ihn nun erkannte. Die mächtige weiße Mähne, der enorme Bart und der buschige schwarze Schnurrbart waren so unverkennbar wie der Inhalt seiner Rede.
    „Karl Marx“, hauchte er.
    „Ja, das war der Name des Pfaffen, je pense “, sagte Napoleon. „Ein Deutscher. Wenn du mich fragst, treiben sich zu viele Deutsche in der Hölle herum. Man kommt sich hier vor wie im Exil.“
    Karl Marx als Pfarrer, der eine Trauerfeier für den Teufel hielt. Ergab das alles noch irgendeinen Sinn? Allmählich zweifelte er daran. Er drehte den Kopf, sah sich um. An den Wänden gab es Überreste von Plakaten. Sie hingen an Tesafilm-Stücken. Da die Wände der Kirche aus Stein waren, hatte man sie hier nicht mit Reißzwecken befestigen können, doch auch hier waren sie roh entfernt worden, nur Fetzen blieben zurück.
    „Diese Plakate“, begann der Brite. „Wer hat sie abgerissen?“
    Hatte Napoleon die ganze Zeit über einen heiteren Eindruck gemacht, so verfinsterte sich seine Miene nun schlagartig. „Na, wer schon? Der Pfaffe natürlich. Er mag keine Konkurrenz. Man sollte von ihm etwas Toleranz erwarten, aber – natürlich sind wir in der Hölle …“ Er grinste bitter. „Der Arzt mag sie auch nicht. Ich war schon eine Weile nicht mehr oben, aber ich wette, er hat alle beseitigt.“
    „Und wer hat die Poster angebracht?“
    Napoleon prustete los. „Mach keine Witze“, rief er. „Siehst du nicht die Schwielen an meinen Händen?“
    „Ich verstehe wirklich nicht. Was ist auf den Plakaten zu sehen?“
    Napoleon fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Was ist los mit dir? Hältst du mich zum Narren, oder hast du das Gedächtnis verloren?“
    Sir Darren überlegte kurz. „Eher zweiteres, so wie es aussieht …“
    „Tatsächlich?“ Der Franzose schien Schwierigkeiten zu haben, ihm zu glauben. „Dann sollten wir nach oben gehen. Vielleicht fällt es dir dann wieder ein.“
    Die Masse der Trauergäste löste sich langsam auf. Während der Priester noch redete, verlor die Gemeinde rapide das Interesse an der Veranstaltung. Beim Hinausgehen zertrampelten sie die Lilien vollends, und die meisten klopften mechanisch auf den Sargdeckel, eine formlose Verabschiedung, wie man sie in Wirtshäusern manchmal sah, allerdings bei Tischen.
    Das Rumpeln im Inneren der Totenkiste war leiser geworden.

7
    Campaigning
    Sir Darren war heilfroh, diesen Ort zu verlassen. Die Dämonen hatten so echt gewirkt, dass sie nach und nach ein unbeschreibliches Gefühl des Grauens in ihm geweckt hatten, das sich durch kein noch so nüchternes Argumentieren vertreiben ließ.
    „Das ist die falsche Tür“, stoppte ihn Napoleon, als er im Begriff war, der Menge durch ein Portal nach draußen zu folgen. „Wir wollen
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