Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fahrenheit 451

Fahrenheit 451

Titel: Fahrenheit 451
Autoren: Ray Bradbury
Vom Netzwerk:
sich mit ihm unterhalten hatte ...
    Montag schüttelte den Kopf. Obwohl er vor einer leeren Wand stand, sah er das Gesicht des Mädchens vor sich, wahrhaft schön in der Erinnerung, sogar erstaunlich schön. Es war ein ganz dünnes Gesicht, wie das Zifferblatt einer kleinen Uhr, das man mitten in der Nacht im dunklen Zimmer gerade noch sieht, wenn man aufwacht und wissen möchte, wie spät es ist, und das Zifferblatt gibt einem Stunde und Minute und Sekunde an, in fahler Stille vor sich hin glimmend, voller Gewißheit, was es einem zu künden hat von der Nacht, die eilig neuen Finsternissen entgegenstrebt, aber auch einer neuen Sonne.
    »Wie?« fragte Montag jenes andere Ich, den heimlichen Kindskopf, der zu Zeiten das Plappern nicht lassen konnte, völlig unabhängig von Willen, Gewohnheit und Gewissen.
    Sein Blick schweifte zur Wand zurück. Wie glich ihr Gesicht doch andererseits einem Spiegel. Eigentlich undenkbar; denn wie viele Leute kennt man, die einem sein eigenes Licht zurückstrahlen? Meistens waren die Leute – er suchte nach einem Vergleich, fand ihn in seiner Berufswelt – wie Fackeln, die fröhlich lodern, bis sie ausgebrannt sind. Wie selten nehmen andere Gesichter unsern Ausdruck ab und werfen ihn auf uns zurück, unser eigenes innerstes Dichten und Trachten?
    Wie unglaublich sich das Mädchen in jemand hineinversetzen konnte! Es war wie die gespannte Zuschauerin eines Puppenspiels, die jedes Wimperzucken, jede Handbewegung vorausahnt und schon erfaßt hat, ehe sie noch geschehen.
     
    Wie lange waren sie nebeneinander hergegangen? Drei Minuten? Fünf? Und doch, wie bedeutend dünkte ihn diese Zeitspanne jetzt. Welch überlebensgroße Gestalt stellte das Mädchen auf der Bühne vor, welch einen Schatten warf es mit seinem schmalen Körper auf die Wand vor ihm! Er hatte das Gefühl, wenn ihm etwas ins Auge flöge, würde Clarisse das ihre zusammenkneifen, und wenn sich sein Backenmuskel auch nur im geringsten dehnte, würde sie gähnen, lange bevor er dazu kam.
    Ja, dachte er, wenn ich es mir überlege, schien sie beinahe auf mich zu warten dort auf der Straße, so spät noch in der Nacht.
    Er machte die Schlafzimmertür auf.
    Es war, als trete er in die kalte, marmorverkleidete Kammer eines Grabmals, nachdem der Mond untergegangen. Völlige Finsternis, kein Schimmer der silbrigen Außenwelt, die Fenster dicht geschlossen, eine Gruft, in die kein Laut aus der großen Stadt eindrang. Das Zimmer war jedoch nicht leer.
    Er horchte.
    Ein zartes, mückenähnliches Sirren war in der Luft, das elektrische Summen einer unsichtbaren Wespe, eingenistet in ihrem rötlichen, warmen Schlupfwinkel. Die Musik war beinahe laut genug, daß er die Melodie heraushörte.
    Er spürte, wie sein Lächeln wegschmolz, einer Talghaut gleich sich zusammenbeutelte, wie das Wachs einer Phantasiekerze, die zu lange gebrannt hat und nun in sich zusammensinkt und ausgeht. Finsternis. Er war nicht glücklich. Noch während er die Worte vor sich hin sagte, erkannte er, daß sie seinen wahren Zustand wiedergaben. Er trug sein Glück wie eine Maske, und das Mädchen war damit davongelaufen; es bestand keine Möglichkeit, bei ihr anzuklopfen und die Maske zurückzufordern.
    Ohne das Licht anzudrehen, sah er das Zimmer vor sich. Seine Frau, auf dem Bett ausgestreckt, unbedeckt und kalt, wie die Gestalt auf dem Deckel eines Sarkophags, den Blick an feinen unsichtbaren Drähten starr an die Zimmerdecke geheftet, unbeweglich. Und in ihren Ohren die fingerhutgroßen, muschelförmigen Rundfunkgeräte, fest hineingeklemmt, mit einem Gewoge von Geräuschen, von Musik und Gespräch, Musik und Gespräch, ihre Schlaflosigkeit umbrandend. Nacht für Nacht flutete es heran und schwenkte sie in einem Schwall von Geräusch hinweg, trug sie mit weit offenen Augen dem Morgen entgegen. Es war in den letzten zwei Jahren kein einzigesmal vorgekommen, daß Mildred sich des Nachts nicht in dieses Meer geworfen hätte, gern in ihm untertauchend.
    Trotz der Kälte im Zimmer war ihm, als könne er nicht atmen Vorhänge und Glastür wollte er nicht aufmachen; er wünschte keinen Mondschein im Zimmer. Mit dem Gefühl, binnen kurzem ersticken zu müssen, tastete er sich nach seinem getrennten und somit kalten Bett. Einen Augenblick, bevor er mit dem Fuß gegen das Ding auf dem Boden stieß, wußte er, daß er gegen etwas stoßen würde. Es verhielt sich ähnlich wie mit dem Gefühl, das ihn beschlichen hatte, ehe er um die Ecke bog und das Mädchen beinahe über
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher