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Exzession

Exzession

Titel: Exzession
Autoren: Ian Banks
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hatte Dajeil immer nur ein und
denselben Besucher empfangen, nämlich den Awatara des Schiffes,
den sie für ihren Gastgeber und Beschützer hielt und der
jetzt schnell und zielstrebig die Stachelbaumzweige beiseite schob,
während er sich von der Landpforte her näherte. Das
einzige, was Dajeil diesmal erstaunlich fand, war der Zeitpunkt
seines Besuches; der Awatara hatte sich regelmäßig ihrer
angenommen – immer jedoch so, als wäre er nur zufällig
bei einem Strandspaziergang vorbeigekommen – und ihr alle acht
Tage einen kurzen Besuch abgestattet; außerdem war er alle
zweiunddreißig Tage zu einem gewohnheitsmäßigen
längeren Aufenthalt gekommen – bei dem sie zusammen ein
Frühstück, Mittag- oder Abendessen einnahmen, je nachdem.
Nach diesem Zeitplan hätte Dajeil erst wieder in fünf Tagen
den Besuch des Vertreter des Schiffes zu erwarten gehabt.
    Dajeil steckte sorgsam eine widerspenstige Strähne ihres
langen, nachtschwarzen Haars hinter das schlichte Haarband und nickte
der hochgewachsenen Gestalt zu, die zwischen den in sich verdrehten
Baumstämmen auf sie zukam. »Guten Morgen!« rief
sie.
    Der Awatara des Schiffs nannte sich Amorphia, was anscheinend
etwas ziemlich Tiefgründiges bedeutete in einer Sprache, die
Dajeil nicht kannte und nie des Erlernens für wert gefunden
hatte. Amorphia war ein grell herausgeputztes, blasses, androgynes
Geschöpf, schlank und groß. Seit einem Dutzend oder so
Jahren gefiel es dem Awatara, sich ganz in Schwarz zu kleiden, und
jetzt waren es schwarze Beinkleider, eine schwarze Tunika und eine
kurze schwarze Weste, in denen er erschien, und sein
kurzgeschnittenes blondes Haar war bedeckt von einem
gleichermaßen schwarzen Käppchen. Er nahm die Kappe ab und
verneigte sich vor Dajeil, wobei er unsicher lächelte.
    »Dajeil, guten Morgen. Geht es dir gut?«
    »Es geht mir gut, danke«, sagte Dajeil, die es seit
langem aufgegeben hatte, sich gegen derartige wahrscheinlich
überflüssige Höflichkeiten zu verwahren oder sich
davon stören zu lassen. Sie war immer noch überzeugt davon,
daß das Schiff sie eingehend beobachtete und stets genau
wußte, wie gut es ihr ging – und ihr Gesundheitszustand
war ohnehin gleichbleibend ausgezeichnet –, war aber dennoch
bereit, das Spiel mitzuspielen und so zu tun, als ob es sie nicht so
hemmungslos beobachtete und deshalb fragen mußte. Trotzdem
erwiderte sie die Floskel nicht in der angemessenen Weise, indem sie
sich weder nach dem gesundheitlichen Befinden einer menschlich
gestalteten, doch vom Schiff gesteuerten Wesenheit erkundigte, die
– soweit sie wußte – allein durch den Kontakt des
Schiffes mit ihr funktionierte, noch nach dem Ergehen des Schiffes
selbst. »Sollen wir hineingehen?« fragte sie.
    »Ja, danke.«

    Die obere Kammer des Turms erhielt von oben Licht durch die
durchsichtige Kuppel des Gebäudes – die zu einem immer
wolkigeren grauen Himmel hinaufblickte –, und von den Seiten
durch sanft schimmernde Holo-Bildschirmen, von denen ein Drittel
blaugrüne Unterwasserszenen zeigte, für gewöhnlich mit
der Darstellung einiger der größeren Säugetiere und
Fische, die das Meer draußen beherbergte, während ein
zweites Drittel helle Bilder von weich aussehenden Wasserdampfwolken
und den großen, dazwischen spielenden Luftwesen zeigte und das
dritte Drittel dem Anschein nach hinausblickte – bei Frequenzen,
die für das menschliche Auge keinen direkten Zugang boten –
in den dichten, dunklen Aufruhr der Gasgiganten-Atmosphäre am
künstlichen Himmel, wo sich noch seltsamere Tiere tummelten.
    Umgeben von prächtig geschmückten Decken, Kissen und
Wandbehängen, griff Dajeil von ihrer Couch aus zu einem
niedrigen Tisch aus gedrechseltem Bein und goß einen
erwärmten Aufguß von Kräuteressenzen aus einer
Glaskaraffe in einen Kelch aus blasigem Kristall mit einer filigranen
Silbereinfassung. Sie lehnte sich zurück. Ihr Gast, der ungelenk
auf der Kante eines zierlichen Holzstuhls saß, nahm den
randvollen Kelch entgegen, führt ihn zum Mund und trank. Dajeil
lächelte.
    Der Awatara Amorphia war absichtlich so gestaltet, daß er
nicht einfach entweder männlich oder weiblich aussah, sondern
eine so vollkommene, ausgewogene künstliche Mischung aus
Männlichkeit und Weiblichkeit darstellte, wie es nur eben ging,
und das Schiff hatte niemals auch nur im geringsten den Anschein
erweckt, als sei sein Vertreter irgend etwas anderes als
ausschließlich seine eigene Schöpfung, allerdings mit
einer oberflächlichen
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