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Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
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da? Bist du da?
    Bist du da? Bist du da? Bist du da? Bist du da? Bist du da?
Bist du
     
    »Dann ist es abgebrochen.
    Ich habe die Nachricht gestoppt, und sie ist eine Minute und siebenundzwanzig Sekunden lang. Das heißt, sie ist um
    10:28 abgebrochen. Genau da ist das Gebäude eingestürzt.
    Also ist er vielleicht dabei gestorben.«
    »Es tut mir irrsinnig Leid.«
    »Das habe ich nie jemandem erzählt.«
    Er drückte mich, es war fast eine Umarmung, und ich spür te, wie er den Kopf schüttelte.

Ich fragte ihn: »Vergeben Sie mir?«
    »Ob ich dir vergebe?«
    »Ja.«
    »Dafür, dass du nicht abnehmen konntest?«
    »Dafür, dass ich es niemandem erzählen konnte.«
    Er sagte: »Ich vergebe dir.«
    Ich zog mir die Schnur über den Kopf und legte sie ihm um den Hals.
    »Was ist mit dem anderen Schlüssel hier?«, fragte er.
    Ich erwiderte: »Der ist für unsere Wohnung.«
    Als ich nach Hause kam, stand der Mieter unter der Straßenla terne. Dort trafen wir uns jeden Abend, um die Einzelheiten unseres Plans zu besprechen, zum Beispiel, um wie viel Uhr wir aufbrächen und was wir machten, wenn es regnete oder wenn ein Wärter von uns wissen wollte, was wir da trieben. Nach ein paar Treffen gingen uns die realistischen Details aus, aber ir gendwie zögerten wir noch, den Plan in die Tat umzusetzen. Also dachten wir uns unrealistische Details aus, zum Beispiel Ausweichrouten für den Fall, dass die Brücke in der 59. Straße eingestürzt war, wie wir den Friedhofszaun überwinden konn ten, falls er unter Strom stand, und wie wir uns bei der Polizei herausredeten, falls man uns verhaftete. Wir hatten alle mögli chen Karten und Geheimcodes und Werkzeuge parat. Vermut lich hätten wir bis in alle Ewigkeit weiter Pläne geschmiedet, wenn ich an diesem Abend nicht bei William Black gewesen wäre und nicht erfahren hätte, was ich erfahren hatte.
    Der Mieter schrieb: »Du bist spät dran.« Ich zuckte mit den Schultern, genau wie Dad. Er schrieb: »Ich habe uns für den Notfall eine Strickleiter besorgt.« Ich nickte. »Wo bist du ge wesen? Ich habe mir Sorgen gemacht.« Ich erwiderte: »Ich habe das Schloss gefunden.«
    »Du hast es gefunden?« Ich nickte. »Und?«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich habe es gefunden, und damit hat die Suche ein Ende? Ich habe es gefunden, aber es hatte nichts mit Dad zu tun? Ich habe es gefunden, und jetzt darf ich mein ganzes Leben mit Bleifüßen herumlaufen?
    »Ich wünschte, ich hätte es nicht gefunden.« »Aber du hast doch danach gesucht.«
    »Das ist nicht das Entscheidende.« »Was dann?« »Ich habe es gefunden, und jetzt kann ich nicht mehr danach suchen.« Ich merkte, dass er mich nicht verstand. »Die Suche nach dem Schloss hat mir geholfen, meinem Dad noch ein bisschen län ger nahe zu sein.« »Wirst du ihm denn nicht immer nahe sein?« Ich kannte die Wahrheit. »Nein.«
    Er nickte, als müsste er an irgendetwas denken oder an vie les denken oder an alles denken, falls das möglich ist. Er schrieb: »Vielleicht sollten wir unseren Plan jetzt endlich in die Tat umsetzen.«
    Ich öffnete die linke Hand, denn wenn ich versucht hätte, etwas zu sagen, hätte ich wieder weinen müssen.
    Wir verabredeten uns für Donnerstagabend. Es war Dads zweiter Todestag, und das passte irgendwie.
    Bevor ich ins Haus ging, gab mir der Mieter einen Brief. »Was ist das?« Er schrieb: »Stan holt sich gerade einen Kaffee. Er hat mich gebeten, dir das hier zu geben, falls er noch nicht wieder da ist.« »Was ist es?« Er zuckte mit den Schultern und ging über die Straße.
    Lieber Oskar Schell,
    Ich habe alle Briefe gelesen, die du mir im Laufe der letzten zwei Jahre geschrieben hast. Im Gegenzug habe ich dir viele Formbriefe geschickt und dabei stets gehofft, dir irgendwann gebührend antworten zu können. Doch je mehr Briefe du mir geschrieben und je mehr du dich mir geöffnet hast, desto mehr bin ich vor dieser Aufgabe zurückgeschreckt.
    Beim Diktieren dieser Zeilen sitze ich unter einem Birnbaum und schaue auf die Obstwiesen, die zum Anwesen eines meiner Freunde gehören. Ich habe die letzten paar Tage hier verbracht, um mich von einer medizinischen Behandlung zu erholen, die mich körperlich und seelisch ziemlich mitgenommen hat. Doch heute früh, als ich Trübsal blies und mich selbst bedauerte, kam ich plötzlich darauf, und es war wie die einfache Lösung eines un lösbaren Problems: Heute ist der Tag, auf den ich gewartet habe.
    In deinem ersten Brief hast du mich gefragt, ob du
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