Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Extrem laut und unglaublich nah

Extrem laut und unglaublich nah

Titel: Extrem laut und unglaublich nah
Autoren: Jonathan Safran Foer
Vom Netzwerk:
»Er hatte etwas verloren und suchte den Boden danach ab.«
    »Ja, aber jetzt müssen Sie nicht mehr suchen«, sagte ich. Er sagte: »Ich war so lange hinter diesem Schlüssel her. Und es ist merkwürdig, ihn jetzt vor mir zu haben.« »Wollen Sie nicht nachschauen, was Ihnen Ihr Vater hinterlassen hat?« »Das ist vermutlich keine Frage des Wollens.« Ich fragte ihn: »Was dann?«
    Er sagte: »Es tut mir so wahnsinnig Leid. Ich weiß, dass du auch etwas suchst. Und ich weiß, dass es nicht das hier ist.« »Ist schon gut.« »Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber ich hatte den Eindruck, dass dein Vater ein guter Mensch war. Ich habe ja nur ein paar Minuten mit ihm geredet, aber es hat gereicht, um zu merken, dass er ein guter Mensch war. Du hattest Glück mit einem solchen Vater. Für einen solchen Vater wür de ich sofort diesen Schlüssel hergeben.« »Besser, Sie müssten diese Wahl gar nicht erst treffen.« »Ja, das wäre wohl besser.«
    Wir saßen da und schwiegen. Ich sah mir noch einmal die Fotos auf seinem Schreibtisch an. Alle zeigten Abby.
    Er sagte: »Komm doch mit zur Bank.« »Das ist sehr nett von Ihnen, aber lieber nicht.« »Bestimmt nicht?« Nicht, dass ich nicht neugierig gewesen wäre. Ich war unglaublich neugierig. Aber ich hatte Angst, dass es mich verwirren könnte.
    Er sagte: »Was ist denn?« »Nichts.« »Ist wirklich alles in Ord nung mit dir?« Ich wollte die Tränen zurückhalten, aber ich konnte nicht. Er sagte: »Es tut mir so wahnsinnig Leid.«
    »Darf ich Ihnen etwas erzählen, das ich noch nie jemandem erzählt habe?«
    »Sicher.«
    »Wir hatten praktisch sofort Schule aus. Man hat uns nicht wirklich erklärt, was los ist, nur, dass etwas Schlimmes passiert sei. Wahrscheinlich haben wir das am Anfang gar nicht richtig kapiert. Oder wir haben nicht kapiert, dass uns auch etwas Schlimmes passieren könnte. Viele Kinder wurden von ihren Eltern abgeholt, aber weil die Schule nur fünf Blocks von meiner Wohnung entfernt ist, bin ich zu Fuß gegangen. Mein Freund hatte gesagt, er wolle anrufen, also bin ich zum Anrufbeantworter gegangen, und das Lämpchen hat geblinkt. Es waren fünf Nachrichten drauf. Sie waren alle von ihm.« »Von deinem Freund?« »Von meinem Dad.«
    Er legte sich eine Hand vor den Mund.
    »Er hat bloß immer wieder gesagt, dass es ihm gut gehe und dass alles gut würde und dass wir uns keine Sorgen machen sollten.«
    Eine Träne lief ihm über die Wange und blieb an seinem Finger hängen.
    »Aber das Nächste habe ich noch nie jemandem erzählt. Als ich die Nachrichten abgehört hatte, klingelte das Telefon. Es war10:26 Uhr. Ich habe auf die Nummer des Anrufers ge schaut, und es war sein Handy.« »Oh, Gott.« »Legen Sie mir bitte eine Hand auf die Schulter, damit ich zu Ende erzählen kann?« »Klar«, sagte er, und er rollte auf seinem Stuhl um den Schreibtisch und hielt neben mir.
    »Ich konnte nicht abnehmen. Ich konnte einfach nicht. Das Telefon klingelte und klingelte, und ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich wollte abnehmen, aber ich konnte nicht.
    Der Anrufbeantworter sprang an, und ich hörte meine ei gene Stimme.«
    Hallo, Sie sind in der Schell-Residenz gelandet. Hier der Fakt des Tages: In Jakutien, das ist in Sibirien, ist es so kalt, dass der Atem sofort mit einem knisternden Geräusch gefriert, und das nennt man dort das Flüstern der Sterne. An extrem kalten Tagen liegen die Städte wegen des Atems der Menschen und Tiere im Nebel. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.
    »Dann kam der Piepton.«
    »Dann hörte ich Dads Stimme.«
     
    Bist du da? Bist du da? Bist du da?
     
    »Er brauchte mich, und ich konnte nicht abnehmen. Ich konnte einfach nicht abnehmen. Ich konnte einfach nicht. Bist du da? Er hat elfmal gefragt. Das weiß ich, weil ich mitgezählt habe. Es war einmal mehr, als ich an den Fingern abzählen konnte. Warum hat er immer wieder gefragt? Und warum hat er nicht ›jemand‹ gesagt? Ist jemand da? ›Du‹ ist ja nur eine Person. Manchmal glaube ich, er wusste, dass ich da war. Viel leicht hat er es immer wieder gesagt, damit ich endlich den Mut finde, abzunehmen. Außerdem hat er immer so lange Pausen zwischen den Fragen gemacht. Zwischen der dritten und der vierten liegen fünfzehn Sekunden, das ist die längste Pause. Im Hintergrund kann man Leute schreien und weinen hören. Und man kann hören, wie Glas zerbirst, und deshalb frage ich mich, ob gerade Leute gesprungen sind.«
    Bist du da? Bist du da? Bist du da? Bist du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher