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Exodus

Exodus

Titel: Exodus
Autoren: DJ Stalingrad
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es ganz selbstverständlich, als hätte
ich mir mein ganzes Leben lang immer nur das vorgestellt. Jetzt ist
es ständig in meinem Kopf, selbst wenn ich nicht daran denke,
lebt es, dieses Bild, in einer Zeit und Ewigkeit neben mir.
    Da
ist also dieser Säulengang, irgendwie antik, überall Bögen
und Marmorsäulen und, das ist ganz wichtig, ein Marmorboden. Es
ist eine Bibliothek oder ein antiker Tempel oder ein Palast oder ein
Regierungsbau, irgendein monumentales, aber längst verlassenes
und verfallenes Gebäude. Als wären alle Menschen mit einem
Mal verschwunden, hätten alle Eingänge vernagelt und es
verdammt. Nun ist alles verwüstet, überall starrender
Schmutz, an den Konturen entlang der Wände, und die Treppe hinab
sieht man, wo in Rinnsalen das Regenwasser fließt, wenn es von
dem baufälligen Dach durch die Wölbung der abgeblätterten
Decke eindringt. Ein altes, verfallenes, monumentales Gebäude.
    Unter
einem der Bögen liegt auf dem Boden eine Leiche. Leichengeruch
steht satt in der Luft, sehr kräftig, angestaut in dem
abgeschlossenen Raum. Da alles aus Stein ist, ist der Körper
nicht verfault, sondern ausgetrocknet, wie gedörrt. Es ist ein
Mann, ein dürrer Mann, unbekleidet, splitternackt, er liegt auf
dem Boden, auf die Seite gedreht. Um ihn herum sieht man eine gelbe
Kontur – da ist mit der Zeit die Flüssigkeit getrocknet,
die nach dem Tod aus der Leiche geflossen ist. Jetzt ist es kein
menschlicher Körper mehr, es ist eine leere Hülle, die
hiergelassen wurde, in diesem Gebäude, wie nutzloser,
vergessener Müll.
    Dieser
Mensch bin ich. Das bin ich persönlich, und das seid ihr, und
der Mensch als solches, wie ein Ur-Adam, der Mensch in
Großbuchstaben. Id est Mensch. Da liegt er, wie ein
ausgetrockneter Käfer, der es nicht geschafft hat, aus dem Glas
zu klettern. Ich sehe dieses Bild so klar, es lebt sein ganz eigenes
Leben, weil es eine höhere Wahrheit enthält. Es hat sich
vor langer Zeit in mir angesiedelt, und dem ist nichts hinzuzufügen.
    Ich
spüre gerne Schmerz. Es ist das einzige, was mir geblieben ist,
auch wenn es unangenehm ist, das zuzugeben. Von Kindheit an hat mich
das Leben gelehrt: Liebe den Schmerz.
    Als
ich klein war, dachte ich daran, mir ein Heftchen anzuschaffen, in
dem ich schlechte und gute Tage markieren wollte – die, an
denen mich meine Mutter doll schlug und die, an denen es nicht so
doll war. Ich erinnere mich an all die Jahre meiner Kindheit als
einen einzigen Schmerz, meine Mutter hat mich ständig
geschlagen. Das Gedächtnis verdrängt unangenehme,
schmerzhafte Momente, an meine Kindheit erinnere ich mich nur dunkel,
bruchstückhaft. Eine meiner ersten Erinnerungen: Ich bin drei
oder vier, stehe im Flur und weine. Mutter schaut mir direkt in die
Augen und schreit wie eine Irre: »Ich schlage dich tot.«
Sie ist eine sehr arme Frau, hat Schizophrenie oder irgendsowas, sie
erlebt ebenfalls ständig unmenschliches Leid und Schmerzen, das
brachte sie immer wieder dazu, demjenigen Schmerz zuzufügen, der
ein Teil ihrer selbst war – mir. Anfälle von Schmerz und
Hass überkamen sie ständig und unvorhersehbar, ich konnte
nie sagen, wann der nächste Angriff kommt. Also musste ich
ständig damit rechnen, es war wie ein permanenter Schmerz, den
man nicht vorhersagen oder abwenden kann.
    Erst
vor Kurzem habe ich eine neutrale Beziehung zu meiner Mutter
entwickelt. Offen gestanden ist sie eine arme, kranke, bekloppte
Schlampe. Ich sollte keine Kinder kriegen – wahrscheinlich
würde ich sie genauso behandeln.
    Schmerz
– als solchen nehmen wir die Umwelt wahr. Ein Geräusch
dringt durch eine empfindliche Membran, drückt sich als Rille in
die Oberfläche einer Vinylplatte. So hinterlässt die
Realität, alle ihre Objekte und die Welt als Ganzes durch den
Schmerz und als Schmerz ihre Rille auf der Oberfläche unserer
Persönlichkeit, formt sie, modelliert sie. Die Maschine ritzt
ununterbrochen alle Geräusche der Umgebung auf die leere
Schallplatte, alles, was in der Bewegung der Luft existiert, wird zum
Ding. Das Leben verletzt uns jede Sekunde durch unsere Augen, Ohren,
Nasenlöcher, Mund, Haut – aus uns fließt Blut, und
wir werden die, die wir sind. Manchmal rutscht dem Meister die Hand
aus, und er setzt einen zu tiefen Schnitt – wir können
daran sterben oder durchdrehen. Mit der Zeit sind es zu viele Narben,
sie überdecken einander zu oft, und wir hören auf, sie zu
spüren, nehmen die Realität nicht mehr in ihren Nuancen
wahr. Wir spüren nichts
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