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Ewigkeit

Ewigkeit

Titel: Ewigkeit
Autoren: Alastair Reynolds
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auf den neuesten Stand gebracht wurden. Du glaubst gar nicht, wie wenige davon erhalten sind.«
    Cassandra schob den Vorhang aus schwarzem Haar beiseite, der die Angewohnheit hatte, ihr vors linke Auge zu fallen. »Was spielt es für eine Rolle, wenn man ein paar Kleinigkeiten nicht weiß, solange man das große Ganze erkennen kann?«
    Eine Bewegung weckte Augers Aufmerksamkeit. Durch das Deckenbullauge sah sie eine Schwadron aus Trägerschiffen, die sich auf Feuersäulen durch die Wolken herabsenkten.
    »Weil wir dann vielleicht eine Chance haben, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen.«
    »Und der wäre?«
    »Zum Beispiel die Erde zu ruinieren. Zu glauben, dass man ein technisches Chaos lösen kann, indem man noch mehr Technik draufschmeißt, obwohl bisher jeder entsprechende Versuch alles nur noch schlimmer gemacht hat.«
    »Man müsste schon ein abergläubischer Fatalist sein, um zu sagen, dass wir es nicht trotzdem weiter versuchen sollten«, erwiderte Cassandra und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem kann es wohl kaum noch schlimmer kommen, als es ohnehin schon ist.«
    »Benutz deine Phantasie, Mädchen«, entgegnete Auger. Sie spürte, wie der Rettungskriecher erzitterte, als die Schockwelle eines Trägerschiffes ihn umspülte. Helle Lichter tanzten durch die Kabine, gefolgt von einem Ruck, als die Bergungsklammer den Kriecher erfasste. Dann waren sie in der Luft, mitgerissen vom aufsteigenden Trägerschiff. Durch die Seitenfenster beobachtete Auger, wie die Champs-Elysées unter ihnen zurückfielen und bald darauf durch die eingestürzten Gebäude verborgen wurden. Jetzt konnte sie die Ringstraßen erkennen, unfähig, den Teil ihres Gehirns abzuschalten, der darauf bestand, ihre Namen aufzusagen. Die Haussmann im Norden, Marceau und Montaigne im Süden.
    »Wie könnten wir es noch schlimmer machen?«, fragte Cassandra. »Da unten können keine Menschen mehr leben. Nichts kann dort leben, nicht mal Bakterien. Das ist doch schon das Schlimmstmögliche.«
    »Heute haben wir gewonnen«, sagte Auger. »Wir kommen mit einem Stück Vergangenheit zurück, einem Fenster in die Geschichte. Aber dort unten gibt es eine Menge Dinge, die wir noch nicht gefunden haben. Wissenslücken, die darauf warten, geschlossen zu werden. Wir haben so viel vergessen, und es gibt so viel, das wir niemals wissen werden, wenn wir nicht die Wahrheit finden, die da unten im Eis eingeschlossen ist.«
    »Das wird durch die Pläne der Kommunitäten nicht gefährdet.«
    »Auf dem Papier nicht. Aber wir alle wissen doch, dass diese Pläne nur das Vorspiel sind. Erst wird mit den Furien aufgeräumt und das Klima stabilisiert, und dann können wir mit der eigentlichen Arbeit beginnen: Terraformung.« Das letzte Wort sprach sie mit tiefstem Abscheu aus.
    Während die Wolken um den Rettungskriecher dichter wurden, erhaschte Auger einen kurzen Blick auf die Schlangenlinie der Seine – ein makelloser Streifen aus weißem Eis, hier und da mit abgesperrten Ausgrabungsstätten gesprenkelt. Weiter draußen konnte sie im gedämpften Licht der schwebenden Luftschiffe die unteren zwei Drittel des Eiffelturms erkennen, seitwärts geneigt wie ein Mensch, der sich gegen eine Sturmböe stemmte.
    »Ist es ein Verbrechen, die Erde wieder bewohnbar machen zu wollen?«, fragte Cassandra.
    »Meiner Meinung nach ja, weil wir das nämlich nicht tun können, ohne dort unten alles auszulöschen und damit alle Bande zur Vergangenheit zu zerschneiden. Das ist so, als würde man die Mona Lisa weiß übermalen, während nebenan eine unbenutzte Leinwand steht.«
    »Du bist also dafür, stattdessen die Venus zu terraformen?«
    Auger hätte sich am liebsten die Haare gerauft. »Nein, dafür bin ich auch nicht. Aber wenn ich eine Wahl treffen müsste …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich diese Diskussion ausgerechnet mit dir führe!«
    »Warum nicht?«
    »Weil du eine von uns bist, Cassandra – eine brave kleine Stokerin, eine brave kleine VENS-Bürgerin. Ich sollte dir so etwas nicht erklären müssen.«
    Cassandra zuckte mädchenhaft die Achseln und deutete einen Schmollmund an. »Ich dachte, ein guter Streit wäre eine gesunde Sache«, gab sie zurück.
    »Stimmt«, erwiderte Auger. »Aber nur, solange du meiner Meinung bist.«
     
    Tanglewood hüllte die Erde in Licht wie ein leuchtender Trauerkranz. Das Trägerschiff bewegte sich vorsichtig, flog hierhin und dorthin, um den beweglichen Strängen auszuweichen, von denen jeder
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