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Evil - Das Böse

Evil - Das Böse

Titel: Evil - Das Böse
Autoren: Jan Guillou
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vergaß. Man durfte auch nicht zu sehr zappeln. Zu viel Gezappel konnte zu zusätzlichen Schlägen und damit zu verzweifeltem, hemmungslosem Weinen führen, das den Vater so in Rage brachte, dass er die für die Schläge festgesetzte Grenze überschritt und Erik, der die Schläge zählte, aus purer Verzweiflung - oder aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus - so sehr zappelte, dass der Vater vor Freude wild wurde und so oft zuschlug, dass jedes Zählen sinnlos wurde, dann wurde Erik geschlagen, bis seine Haut platzte und von der flachen Seite der Kleiderbürste Blut durchs Zimmer spritzte und erst das Weinen der Mutter vor der Schlafzimmertür den Vater allmählich wieder zur Besinnung brachte.
    Der Schokoladenpudding blieb ihm im Hals stecken. Er hatte noch nie vierzig Schläge durchgehalten.
    Nun sah er zwei Möglichkeiten. Die eine Methode war, seinen Körper nicht anzuspannen. Er hatte irgendwo gelesen, dass sich das lohne, aber seine Erfahrung zeigte, dass es nur schwer zu bewerkstelligen war. Die andere Methode lief darauf hinaus, die Muskeln im Rücken und im Hintern so weit wie möglich anzuspannen, damit die Schläge von so wenig Körperfläche wie möglich absorbiert würden. Diese Methode ließ sich zudem mit dem noch wichtigeren inneren Widerstandskampf kombinieren. Das Wichtigste war nämlich, die Augen zu schließen und hinter den Augenlidern zu sehen. Man musste sich weit weg denken, sich auf das Bild eines kleinen glühenden Feuers weit hinter den geschlossenen Augen konzentrieren; wenn man den Vater richtig hasste, konnte man das Bild des blauen Feuers in einen Funken sprühenden kleinen Stein verwandeln. Aber dafür musste man sich schon im Voraus konzentrieren. Um vierzig Schläge durchzuhalten, musste man sehr lange an den Hass auf den Vater denken.
    Er wirkte zerstreut, als abgeräumt wurde. Hätte fast einen Teller auf den Boden fallen lassen, was zu einer Katastrophe geführt hätte. In der halben Sekunde, die er brauchte, um den entglittenen Teller knapp einen Dezimeter über dem Boden aufzufangen, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Danach musste er sich sofort wieder konzentrieren.
    Auf dem Weg ins Schlafzimmer atmete er tief durch. Er kniff schon hinter seinen offenen Augen die Augen zusammen. Er hörte kaum den Befehl des Vaters, seine Hose fallen zu lassen und sich vorzubeugen. Dann schloss er die Welt aus und holte tief Luft. Danach gab es nur tief in der Finsternis das blaue Feuer aus Hass.
    Als er feststellte, dass er auf dem Weg ins Licht war, nach einem tiefen Tauchgang auf dem Weg an die Oberfläche, war er schon dabei, das Schlafzimmer zu verlassen. Offenbar hatte er dem Vater die Hand gegeben und sich mit ihm versöhnt, ohne es zu wissen. Dann stellten sich Freude und Triumph ein. Er hatte vierzig Schläge durchgehalten. Er fror ein wenig.
    Abends lag er im Kinderzimmer unter der Decke und las ein verbotenes Buch. Es waren die Märchen der Gebrüder Grimm. Sie galten als unpassend und beängstigend für Kinder und vor ein paar Jahren war er mit diesem Buch auf frischer Tat ertappt worden (etwa dreißig Schläge). Man hatte ihm erklärt, wie die Furcht sich tief in einem Kind festsetzen und dann das ganze Leben dort bleiben könne.
    Dieses neue Exemplar hatte er zusammen mit Grimbergs schwedischer Geschichte aus der Schulbücherei ausgeliehen, nun las er es unter der Decke, das eine Ohr wie ein Periskop auf die Außenwelt gerichtet, rasche Schritte und blitzschnelles Löschen der Taschenlampe, weg mit dem Buch unter die Matratze (nicht unter das Kissen!).
    Aber dort in der Dunkelheit lag der kleine Bruder und war noch wach.
    »Gib mir deine Taschenlampe«, sagte der kleine Bruder.
    Erik gab keine Antwort.
    »Wenn du mir nicht deine Taschenlampe gibst, schrei ich und sag Vater, dass du mich geschlagen hast«, sagte der kleine Bruder.
    Eilig überdachte Erik seine Lage.
    Wenn er nachgab, würde er die Taschenlampe verlieren und weiteren Erpressungsversuchen ausgesetzt sein.
    Wenn er nicht nachgab, würde der kleine Bruder seine Drohung zweifellos in die Tat umsetzen, dann würde der Vater kommen und die Tür aufreißen und es gäbe keine Erklärungen und keine Hilfe. Danach aber konnte der kleine Bruder drohen, das Manöver gleich noch einmal zu wiederholen, und der Vater wäre außer sich vor Wut, wenn der kleine Bruder schluchzend erklärte, Erik habe ihn schon wieder geschlagen.
    »Ich zähle bis drei«, sagte der kleine Bruder.
    Der kleine Bruder würde ihm alles wegnehmen
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